Natürlich hat Schäuble nicht im Sinne von Biologie oder Sex gesprochen, als er von Inzucht sprach. Die Aufregung über seinen blöden Spruch ist allerdings genau so übertrieben, wie die über die ebenfalls nicht immer besonders schlauen Sprüche bei andern. Momentan, so hat es den Eindruck, sitzt auf jedem Platz eine gespannte Springfeder, Stinkbombe, Mausefalle, oder ähnliches, bei der geringsten Berührung los schnappende, springende oder expolodierende Empörungspotential herum, dessen Erwartungshaltung, die Spannung in die es versetzt wurde, geradezu unerträglich sein muss. Die kleinste Berührung, ein dummer Satz, und die Spannung löst sich. Je nach Naturell und Art springt, stinkt, schnappt oder nebelt es von jedem Meinungsplatz.
Nun ja, um Schäubles Inzestvermutung ist es schnell wieder ruhig geworden, ein paar Springfedern, Stinkbomben oder Mausefallen konnten noch bei Twitter & Co. ausgelöst werden, ist aber kaum der Rede wert. Ganz anders hingegen war es in den Fällen Brüderle, Petry oder Gauland, da sprang, stank, schnappte und nebelte es wochenlang. Irgendjemand musste die Springfedern, Stinkbomben und Mausefallen immer wieder in ihren Spannungszustand zurück versetzen, um sie immer und immer wieder auslösen zu können. Das passt nicht zur spontanen Empörung, denn mit dem Augenblick der Entladung stirbt die Spannung; zeigt sich die Empörung, so ist genau in diesem Augenblick der Übergang vom Potential zum Ausbruch erfolgt. Die nicht sichtbare, aber als Potential gespeicherte Energie wurde in der Entladung frei. Die Empörung muss nun Wirkung zeigen, will sie sich nicht selbst lächerlich machen.
Kenner dieser Vorgänge wissen damit umzugehen. Ist die Empörungsentladung erfolgt, ist damit gleichzeitig die latente Bedrohung vorbei, von der man nie weiß, wie stark sie ist, welches Potential in ihr steckt. Hat sich die Spannung in der Empörungsentladung gelöst, ist nun sichtbar was bisher verborgen war und nur vermutet werden konnte. Für denjenigen, dem die Empörung gilt, heißt es nun kurz Deckung zu nehmen, nicht die Finger in der Nähe der Mausefallen zu haben, den Gestank nicht einzuatmen oder den Kopf abzuwenden, damit keine der Springfedern ins Auge geht. Kurz nur abwarten, ein wenig lüften, sich selbst einen Moment bedeckt halten, dann ist der Spuk vorbei und man kann wieder seiner gewohnten Tätigkeit nach gehen. Der Beck von den Grünen hat vorgemacht wie das geht.
Damit die Empörung wirkt, ist es für die die damit planen, wichtig, dass entweder die Spannung aufrecht erhalten wird, oder schnell neue Spannung aufgebaut wird. Nur die wird nämlich als wirkliche Gefahr empfunden. Der Springfeder, der Mausefalle oder der Stinkbombe ist nicht anzusehen welche Kraft und welche Spannung in ihr steckt, dies kann nur vermutet werden. Auch nicht wie groß der Auslösungsimpuls sein muss damit das Feuerwerk los geht, meist in Form einer Kettenreaktion.
Hier ist nun auch der Unterschied zwischen einer spontanen Entladung oder einer geplanten zu erkennen. Die erste erfolgt unkoordiniert, ist chaotisch und widersprüchlich, die zweite scheint einer gewissen Choreographie zu folgen, wie fallende Dominosteine oder ein tolles Feuerwerk. Die spontane Entladung einer Spannung zur Empörung wirkt wie ein Shitstorm bei Twitter & Co, die choreographierte gleicht einer medialen Kampagne, freilich ebenfalls mit den Elementen des Shitstorms, der aber in einer breiteren Choreographie eingebunden ist. Er ist weniger widersprüchlich, die verschiedenen Elemente sind besser aufeinander abgestimmt. Die Herleitungen der Argumente, besser Diffamierungen, sind logischer und lassen immer vermuten, dass es noch weiter geht, was gleichzeitig dem Aufbau neuer Spannung dient.
Hier genau hinzuschauen ist notwendig, um unterscheiden zu können, ob es sich bei einem Shitstorm um eine spontane Entladung handelt, oder um eine inszenierte Kampagne. Diese verrät sich nämlich durch die Choreographie, den medialen Chor der in die Empörung einstimmt. Diese gleicht einem Musikstück welches ein Thema immer und immer wieder aufnimmt, in die Länge zu ziehen versucht, und es durch die Wiederholungen eingängig macht.
Der wohl wichtigste Unterschied zwischen der spontanen Entladung und der inszenierten Empörung betrifft die innere Spannung in einer Gesellschaft. Das Vorhandensein einer inneren Spannung ist Voraussetzung dafür, dass überhaupt eine spontane Entladung in Form von Empörung und Shitstorm geschehen kann. Bei der inszenierten Empörung ist dies nicht der Fall, hier lässt der Shitstorm bestenfalls Rückschlüsse auf das allgemeine Weltbild oder auf die politischen Absichten derer zu, die in der Inszenierung mitspielen oder das Drehbuch dazu schreiben.
Da die inszenierte Entladung, der inszenierte Shitstorm, die inszenierte Empörung, keine Reaktion auf vorhandene gespeicherte Empörungsenergie ist, dient sie dazu, neue Spannungsfelder aufzubauen. Sie ist in Herkunft und Wirkung der spontanen Entladung beinahe gegensätzlich, obwohl beim flüchtigen Hinsehen der Eindruck entstehen kann, es wäre das Gleiche.
Die Aufregung über Schäubles blöden Spruch, der übrigens sehr schön von Katharina Szabo kommentiert wurde, währte nur kurz. Für einen veritablen Shitstorm langte es nicht, dazu war nicht genug Empörungsenergie im Spannungsfeld vorhanden, es konnte sich nichts entladen. Dies war übrigens bei Brüderle, Gauland und Petry ebenfalls der Fall. Aber die Shitstürme die auf deren blöde Sprüche folgten waren auch nicht spontan, sondern inszeniert. Sie sagten nichts über das Spannungsfeld der Gesellschaft aus, sondern nur etwas über die politischen Absichten der Inszenierer. Durch Medien choreographierte Empörungen sind an der fehlenden Kakophonie erkennbar, die aber in jeder spontanen aus einem Spannungsfeld erfolgten Entladung zwangsläufig vorhanden ist.
Der eine, der spontane, Shitstorm zeigt an, welche Spannungen in der Gesellschaft vorhanden sind; der andere, der inszenierte, verrät welche Spannungen von den jeweiligen Akteuren geschaffen werden sollen.
"Natürlich hat Schäuble nicht im Sinne von Biologie oder Sex gesprochen, als er von Inzucht sprach. " welcher Sinn kommt denn noch in Frage?
AntwortenLöschenEs ist wie in der Schule - was wollte der Künstler damit sagen? Das ganze kommt mir vor wie eine Untersuchung über geplanten und spontanen Dünnsch...