28. November 2017

Der Einwanderer als Frontier

Es war kein Zufall dass ich Stuttgart landete, obwohl ich zu dieser Stadt keinerlei Bezug hatte. 1983 war das, als ich per Ausreiseantrag mit meiner damaligen Familie die DDR verlassen konnte. Zwei Freunde von mir, aus unserer Oppositionellengruppe, welche wiederum hauptsächlich aus der Jungen Gemeinde meines Jahrgangs hervorging, hatten schon vor uns die Zone verlassen und lebten hier. Allerdings war der Weg in den Südwesten nicht so selbstverständlich, die erste Option war der Niederrhein, eine nette Stadt Namens Kevelaer, auch als Wallfahrtsort bekannt, stand oben an. Eine Patentante von mir war hier zu Hause, eigentlich war sie eine Cousine meiner Mutter und in dem gleichen schlesischen Städtchen wie sie geboren. Sie hatte schon eine Wohnung für mich und meine Familie besorgt, viel besser hätte der Neubeginn eigentlich kaum sein können. Dennoch entschieden wir uns für Stuttgart, gingen den Weg über das Notaufnahmelager in Gießen, danach die Landesaufnahmestelle in Rastatt, um dann in einer Wohnunterkunft für Flüchtlinge in Ostfildern zu landen. Dort teilten wir, also meine damalige Frau, ich und drei Kinder (zwei Jungs, vier und drei Jahre alt, sowie eine einjährige Tochter), eine Zwei-Zimmer-Wohnung mit einer deutschstämmigen Familie aus Rumänien.

Dabei hatte sich meine Patentante alle Mühe gegeben, uns ihre Heimat schmackhaft zu machen. Führte uns zum Römerkastell nach Xanten, oder einer Burg in Kleve, irgendwo da las ich auf einem Hinweisschild etwas über D’Alembert und Diderot, woraufhin ich die Tante mit einem Monolog über die Enzyklopädisten nervte.

Ernsthaft kamen nur diese beiden Orte in Betracht, Niederrhein und Großraum Stuttgart, um im Westen sesshaft zu werden. Freilich hatten wir Informationen über viele Städte im ganzen Land, dennoch kamen diese nicht in die engere Wahl. Warum? Ganz einfach, bei den Bevorzugten gab es Kontakte denen ich vertraute, Informationen aus erster Hand und Menschen von denen ich annahm, dass sie meine Empfindungen in der neuen Umgebung verstehen.

Stuttgart wurde es dann, weil die Kumpels schon hier waren und sie uns näher standen als die Tante. Wir konnten von ihren Erfahrungen profitieren, sie kannten die entscheidenden Unterschiede und konnten uns vor Fettnäpfchen waren, oder schlimmeren.

Es waren also die Menschen denen wir folgten, sie waren für uns so was wie Frontiers, also Personen die sich in zwei Kulturkreisen auskannten, sie sind sozusagen die Einwanderer der ersten Generation. Diese Personen wirken immer wie Magnete auf andere Menschen, solchen die sich der Überlegung hingeben ihr persönlich örtlich gebundenes Leben zu verändern. Ob der Anlass dieser Veränderung eine Flucht ist oder nur der Wunsch nach Verbesserung der Lebenssituation, spielt dabei keine große Rolle.

Natürlich denken wir beim Begriff Frontier sofort an die Besiedlung Nordamerikas, an die Trapper und Siedler, die den Westen des Kontinents erschlossen. Das faszinierende an dieser vor allem von Frederick Jackson Turner entwickelten These ist, dass nicht staatliches Handeln oder ein großer Plan für die Erschließung von Räumen und Ressorcen notwendig sind, sondern diese Vorgänge völlig unideologisch mit den Befindlichkeiten und Wünschen von Individuen erklärt werden können und praktisch immer und überall geschehen. Jürgen Osterhammel widmet seinem Werk »Die Verwandlung der Welt« ein ganzes Kapitel (100 Seiten) dem Begriff Frontier und beschreibt dies als globales Phänomen.

Als Frontier kann sowohl ein Raum, ein geographisches Gebiet, als auch Personen bezeichnet werden, die sich, beispielsweise in Form von Siedlungskolonisation, in dem Gebiet niederlassen. Dabei eröffnen sie die Räume für weitere Einwanderer, eine Gemeinschaft entsteht, die allerdings immer mehr der gleicht, aus der die Einwanderer kommen.

Waren im 18. und 19. Jahrhundert vor allem nomadische Völker einer Veränderung ihrer Welt durch die Frontiers ausgesetzt, so spielt das heute kaum noch eine Rolle, Nomaden gibt es nicht mehr viel. Dennoch darf die Rolle des ersten Einwanderers, der eigentlich auch ein Frontier ist, bei der Betrachtung von heutigen Migrationsbewegungen nicht vernachlässigt werden. Er ist es, der Räume für die Nachfolgenden öffnet, ihm folgen weitere. So wie ich meinen Kumpels gefolgt bin. Heute sind die Räume für die Frontiers nicht mehr die Wildnis, oder was so bezeichnet wurde, sondern Städte, jene Räume des modernen Nomadentums. Auch Osterhammel weist auf die Gemeinsamkeit der Räume von Frontiers und Städten hin: „Menschen strömen in die Stadt und an die Grenze. Beide, Stadt wie Frontier, haben auch auch etwas gemeinsam: Sie sind Wanderungsmagneten des 19. Jahrhunderts. Als die Räume erträumter Möglichkeiten ziehen sie Migranten an wie nichts sonst in der Epoche. Gemeinsam ist der Stadt wie der Grenze die Durchlässigkeit und Formbarkeit der sozialen Verhältnisse.“

An diesem Punkt angekommen, muss ich mich korrigieren. Für mich mögen meine Kumpels oder die Tante wie Frontiers vorgekommen sein, Menschen die sich in zwei Welten auskannten, sie unterscheiden sich aber sehr von den richtigen Frontiers, da ihnen die Formbarkeit von sozialen Verhältnissen keineswegs ein Anliegen war. Auch uns nicht, im Gegenteil, die Verhältnisse wollten wir keineswegs ändern oder anpassen, nur davon profitieren. Nach nur ganz kurzer Zeit, waren die Einwanderer aus der DDR im Westen bestenfalls noch durch den Dialekt von der einheimischen Bevölkerung zu unterscheiden.

Dass ich dennoch an diesem Begriff für die ersten Einwanderer einer Gruppe fest halte, ist der magnetischen Wirkung auf weitere Einwanderer geschuldet. Auch ich entwickelte diese Wirkung, mir folgten ebenso Menschen nach: Mein Bruder, meine Schwester mit ihrer Familie und ein paar Freunde. Sie alle leben nun im Großraum Stuttgart.

Wir allerdings sind, wie die Flüchtlinge und Vertriebenen nach dem Krieg, in der Bevölkerung aufgegangen und haben keine eigenständige Gemeinschaften mit einem inneren Zusammenhalt gebildet, wie das bei den richtigen Frontiers geschieht, die geradezu auf diesen Zusammenhalt in ihrer Gruppe angewiesen sind, wollen sie nicht die eigene Identität verlieren. Trifft dann diese Frontiergemeinschaft auf eine Gesellschaft die sich durch eine besondere soziale Formbarkeit auszeichnet, dann steht der Inanspruchnahme des politischen, sozialen und auch des geographischen Raumes nichts mehr im Wege.

„Aus der Sicht derer, auf die sich die Frontier zubewegt,“ schreibt Osterhammel, „ist sie die Speerspitze einer Invasion. Danach wird weniges so sein wie es einmal war.“

Er schreibt dies als Historiker über das 19. Jahrhundert und die damaligen Migrationsbewegungen, aber haben sich die Menschen seither wirklich so grundlegend geändert, dass ihre Bedürfnisse, ihre Antriebe und ihre Wesensart gänzlich anders dargestellt werden müssten? Zumindest was die Magnetwirkung von Frontiers betrifft, so darf ich diese Frage nach meinen eigenen Erfahrungen verneinen.



Dossier: Heimat

4 Kommentare :

  1. Interessant. Ich hatte den englischen Begriff "Frontier" (woher er mir bekannt ist) eigentlich nie auf Personen bezogen, sondern damit lediglich ein geografisches Grenzgebiet bezeichnet; gleichwohl finde ich den Gedanken der Großstädte als neue "Frontiers" (der aktuellen Einwanderungswellen) schlüssig.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Osterhammel schreibt: „Muss man die Frontier als einen auf einer Landkarte umgrenzbaren Raum betrachten? Manches spricht dafür, sie als besondere soziale Konstellation zu verstehen.“ Daraus habe ich für mich die Freiheit abgeleitet, auch Menschen als Frontier zu bezeichenen.

      Löschen
    2. Ja, es ist auch ein interessanter Gedanke; das sollte kein Widerspruch sein. Ich finde Ihre Beiträge sehr hmm stimulierend und befruchtend.
      Was mir zu Ihrem Artikel (als voererst letzte Anmerkung) noch in den Sinn kam:
      Die Frage, ob Menschen in diesem Bereich der Frontiers als Grenzgänger oder Grenzverletzer empfunden werden, bestimmt die nicht auch darüber, ob diese Grenzräume (geograf. Frontiers) aus Sicht der (hinter den Grenzen ansässigen) Bevölkerung zugleich auch als Verteidigungslinien verstanden werden (vgl. Front)?
      Großstädte befinden sich im geografischen Sinne (ich weiß, Sie haben es anders gemeint) quasi hinter der ursprünglichen Front, d. h. es sind ungeschützte Hochburgen im Hinterland eines zu erobernden Territoriums - und diese Städte werden qua Einwanderung in gegnerische Stützpunkte umgewidmet (gesetzt den Fall, man sähe in einem Aufeinandertreffen diverser inkompatibler Kulturen einen Konflikt und nicht lediglich eine friedliche Verschmelzung).

      Löschen
    3. Ja, ich denke man kann es so sehen, Städte als Stützpunkte und Zentren für die Inbesitznahme des Raums. Quasi wie Kristalle die in den Raum hinein wachsen. Müsste ich eine Strategie entwickeln, um ein Land (friedlich) zu erobern, würde ich wahrscheinlich genau so vorgehen.

      Löschen