Mitte der achtziger Jahre besuchte mich ein Freund, der gerade von einer mehrmonatigen Südseereise zurück gekommen war, und ich lauschte seinen Berichten die mir ganz anderes Bild vermittelten als das was ich bis dahin hatte. Unter anderem besuchte er die Marquesas, eine der wohl abgelegensten Inselgruppen in französisch Polynesien. Auf einer dieser, auf der Karte des Pazifiks wie Fliegenschisse aussehenden, Inseln ließ er sich allein absetzen und versuchte sich durchzuschlagen. Aufnahme fand er zuerst nicht, die Einheimischen waren nicht auf Besucher eingerichtet. Fremde sind erst mal nicht willkommen. Erst nach dem er einen Gottesdienst besuchte, kam es zu ersten Annäherungen. Das Christentum wirkte in diesem Fall wie ein Vermittler damit sich die Menschen näher kommen konnten, ungeachtet ihrer sonstigen Kultur oder der wirtschaftlichen Bedingungen.
Daran fühlte ich mich erinnert, als kürzlich in 3sat ein Reisebericht über die Marquesas gesendet wurde. Dem überaus positiven Eindruck von der katholischen Kirche, den mein Freund hatte, wurde dort widersprochen, die Kirche als Zerstörer einer alten ursprünglichen Kultur dargestellt, die mittels Verboten die Einheimischen von ihren Riten abbringen wollten. Erst seit wenigen Jahrzehnten würde eine Rückbesinnung auf die alten kulturellen Wurzeln geschehen, was sich auch in vielfältigen traditionellen Tätowierungen ausdrückt. Damit reit sich der 3sat-Reisebericht in Klagen älterer prominenter Besucher der Marquesas ein. Paul Gauguin beispielsweise, dessen Bilder nun in den großen Museen der Welt zu sehen sind.
Ob wirklich die Kirche an der Unterdrückung alter Riten und Gebräuche, somit einem Teil der einheimischen Kultur, Schuld hat, ist noch nicht ganz ausgemacht. Ich kann das auch von hier aus nicht beurteilen, wahrscheinlich hat die französische Verwaltung einen größeren Anteil; immerhin gehörte auf einigen Inseln der Kannibalismus zur Kultur.
Wie auch immer, das heutige Verhältnis zwischen Einheimischen und Kirche ist nicht mehr Konfliktbeladen. Die Menschen besinnen sich ihrer Wurzeln, alte Kultstätten, Gegenstände und Riten wurden in den neuen Glauben integriert, der nun gleichzeitig universell ist, aber auch lokal eine Verbindung zu den eigenen Wurzeln herstellt und ein Teil der Heimat ist. Eine ganz eigene Volksfrömmigkeit ist entstanden, und wenn wir genauer hinschauen, so trifft dies auf so gut wie jede Region in der Welt zu wo der eine Glauben von einem anderen ersetzt wurde. Lokale Heilige entstanden deren Eigenschaften denen früherer Götter oder Geister entsprechen. Traditionen und kulturelle Muster werden in die neue Religion integriert. Dies ist nicht nur im Christentum so, sondern auch im Islam und anderen. Diejenigen die sich auf die reine Lehre berufen, egal in welcher Religion, blenden diesen Aspekt der Volksfrömmigkeit aus, der aber einen wesentlichen Teil des Glaubens der Allermeisten ausmacht. Es ist ihre Verbindung zur Heimat, zum Stamm, zur ethnischen Zugehörigkeit, all dies findet sich in gelebter Frömmigkeit wieder. Vor allem die Katholische Kirche hat es seit jeher verstanden diese teilweise auf alte vorchristliche Religionen oder Mythen zurückgehende Praktiken zu integrieren. Und wenn diese schon nicht in die offizielle Lehre übernommen wurden konnten, so hat man diese lokalen Glaubenspraktiken wenigstens toleriert. Die Evangelische Kirche tut sich diesbezüglich ein wenig schwerer, lokale Volksfrömmigkeit spielt eine wesentlich kleinere Rolle. Auch im Islam ist dies im Prinzip nicht viel anders, es gibt ihn in den unterschiedlichsten Ausprägungen, in die jeweils lokale Überlieferungen und kulturelle Eigenheiten einfließen.
Deshalb ist mir das alles zu billig: „Im Koran steht, in der Bibel steht, der Islam ist so, Die Christen sind so!“ Die jeweiligen Erklärungen die danach folgen, insbesondere wenn sie sich noch hauptsächlich auf Bibel oder Koran berufen, können wir allesamt in die Tonne treten. Sie gehen an der Lebenswirklichkeit der Gläubigen vorbei; und diejenigen die die jeweiligen Religionen kritisieren, ereifern sich über etwas Theoretisches was es in der Praxis kaum gibt. In Wirklichkeit haben wir es durchweg immer mit einer Vermischung von Volksfrömmigkeit, Anpassung an die Lebenswirklichkeit und dessen zu tun, was an Schriften übermittelt wurde und als Gottes Wort gilt. Dies wird immer dem Zeitgeist sowie alten kulturellen Mustern angepasst und wird ständig neu interpretiert. Auch dann, wenn behauptet wird, nur das Wort gelte, auch dies ist bereits Deutung.
Doch in diese Diskussion der theologischen Deutungen möchte ich hier gar nicht einsteigen, sondern einmal betrachten, was unter dem Begriff Volksfrömmigkeit verstanden wird. Mir fallen hier viele Christen ein, die sich selbst als gläubig bezeichnen, selbst aber eigentlich jahrelang kaum in die Bibel schauen, und deren Wissen darüber was da drin steht, recht rudimentär ist. Es wurde ihnen vermittelt über Religionsunterricht, verinnerlicht allerdings durch die sie ihnen umgebende religiöse Praxis. Feste spielen dabei eine große Rolle, jährliche wie Weihnachten oder Ostern, persönliche wie Taufe, Hochzeit oder Konfirmation, und nicht zuletzt, dem Begräbnis. Überhaupt, die Toten, welche Rolle spielen sie, welche Vorstellung vom Tod haben religiöse Menschen. Dabei spielen Heilige gern eine wichtige Rolle, haben themenspezifische oder lokale Aufgaben. Mitunter führt dies so weit, dass sich lokale Spielarten einer Religion entwickeln, mit nur in dieser Kultur gängigen Mustern.
Fundamentalisten in ihren jeweiligen Religionen ist diese Volksfrömmigkeit allerdings immer ein Dorn im Auge. Für sie zählt nur die reine Lehre und lokale Ausprägungen mit entsprechenden kulturellem Hintergrund werden bekämpft, und wenn die Fundis sich durchsetzen, führt dies zur Entwurzelung der Gläubigen, die dann nicht mehr auf alte kulturelle Erklärmuster zurückgreifen können.
Eine weitere Gefahr besteht, wenn sich die Umwelt so verändert hat, dass eben diese Volksfrömmigkeit keinen Sinn mehr ergibt, kein Bezug zur Lebenswirklichkeit mehr hergestellt werden kann. Dies ist natürlich auch der Fall, wenn Gläubige ihre Heimat verlassen und sich in fremde Kulturkreise begeben. Sofern es dort eine Art Diaspora gibt, bleiben die alten Bilder noch einige Zeit bestehen, und werden dann in einem Anpassungsprozess durch neue ersetzt, sofern sich die Lehre als flexibel genug dafür erweist. Aber spätestens in der zweiten Generation der Aus- oder Einwanderer verliert die ursprüngliche Volksfrömmigkeit immer mehr an Bedeutung, mit der Folge einer kulturellen Entwurzelung. Die alten Bilder stimmen nicht mehr, neue gibt es nicht. Es ist die ideale Voraussetzung dafür, dass Fundamentalisten in dieses entstandene Vakuum eindringen. Es darf mit Recht davon ausgegangen werden, dass gerade dieser Umstand ein Grund dafür ist, dass sich ausgerechnet muslimische Einwanderer in der zweiten Generation eher radikalisieren und zu Fundamentalisten werden, als die Generation ihrer Eltern.
Rein äußerlich hat sich nicht viel geändert, der Koran ist der Gleiche geblieben, aber durch den Verlust der Volksfrömmigkeit ist auch ein kultureller Verlust einher gegangen. Die Gläubigen fühlen sich nun vollständig entwurzelt, haben keinen Bezug mehr zur alten kulturellen Identität, ohne dass eine neue entstanden wäre.
Dieser Umstand erklärt auch, warum es Einwanderern aus christlichen Ländern wesentlich leichter fällt ihre Volksfrömmigkeit beizubehalten, oder die des Gastlandes zu integrieren. Die kulturellen Wurzeln werden nicht gekappt, sondern sie verändern sich. Für den Islam aber bedeutet es, will er nicht für immer ein Fremdkörper in diesem Land sein, dass er sich eine neue Volksfrömmigkeit aufbaut, mit gänzlich neuen Wurzeln. Gelegentlich ist die Rede vom Euroislam, der europäische Aufklärung sowie Pluralismus und Meinungsfreiheit integriert. Theoretisch ist das denkbar, wenngleich die Chancen dafür, dass so etwas dann tatsächlich in nennenswertem Umfang entsteht, momentan sehr gering sind. Die kulturelle Entwurzelung, hervorgerufen durch eine nicht mehr zur Umwelt passende Volksfrömmigkeit, treibt die Menschen in die Hände von Fundamentalisten. Diese nutzen ein entstandenes Vakuum.
Im übrigen ist ein solches auch bei Christen entstanden, weil auch hier die Lebenswirklichkeit immer weniger Elemente der Volksfrömmigkeit enthält. Nur führt dieses Vakuum nicht zur Radikalisierung, sondern wird von neuheidnischen Mythen wie der Gaia-Hypothese, oder der Esoterik allgemein, ausgefüllt. Die Bilder und Erklärmuster wandeln sich, eine neue Volksfrömmigkeit entsteht.
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