Der Reaktionär lebt zwei Leben, eines vor, und eines nach der Verwandlung. Wie der Schmetterling, der erst Raupe ist, um sich dann in der Metamorphose in ein scheinbar völlig anderes Wesen zu verwandeln. Doch anders als bei diesem Insekt, geschieht die Verwandlung des Reaktionärs nicht automatisch, ist kein natürlicher Automatismus vorhanden, der ihm eine neue Gestalt verleiht. Irgendetwas löst die Verwandlung aus, niemand weiß aber genau was es ist. Der Reaktionär berichtet gerne über seine Metamorphose, er empfindet sie als Erweckungserlebnis, so als hätte er vorher keine Augen gehabt, und ist erst jetzt sehend geworden. Wie ein Schlafwandler sei er durchs Leben gegangen, nichts außer ihm selbst und seine Familie habe ihn interessiert. Seine Umwelt akzeptierte er so wie sie ist, er passt sich ihr an, nutzte sie zu seinem Vorteil, ohne darüber nachzudenken oder zu beobachten, wie sich diese Umwelt verändert.
Vor der Metamorphose ist der Reaktionär nicht von anderen Menschen zu unterscheiden, er verhält sich wie sie, sieht auch so aus, ißt und trinkt das Gleiche. In der Wissenschaft ist noch nicht geklärt, ob im Grunde jeder Mensch die Gene zum Reaktionär in sich trägt, oder nur manche. Unstrittig ist allerdings, dass es einen Anlass braucht, damit die Metamorphose eintritt. Es können langsame Veränderungen sein, die irgendwann einen Level erreichen, der beim Reaktionär die Verwandlung auslöst, oder auch plötzliche Vorkommnisse, die ihm aus seinem schlafwandlerischen Dasein erwecken.
Irgendeine Situation ist unerträglich geworden und hat die Metamorphose ausgelöst. Nun schwingt sich der Reaktionär auf zur Suche nach einer besseren Welt. So wie sie vielleicht mal war, doch er kann sich nicht richtig erinnern, vor seiner Verwandlung hatte er seine Umwelt ja nur schemenhaft wahr genommen. Da schien ihm alles in Ordnung. Da muss alles in Ordnung gewesen sein, sonst wäre seine Erweckung ja viel früher geschehen, sonst wäre er vielleicht als Reaktionär geboren worden.
Den meisten Mitmenschen erscheint der Reaktionär nun als einer der die Vergangenheit wieder herstellen möchte. Die Zeit in der alles in Ordnung schien. Doch dieser Eindruck täuscht, der Reaktionär weiß, dass er seine Metamorphose nicht rückgängig machen kann. Er möchte es auch nicht, eine Rückverwandlung würde ihn ja in diesen überwundenen schlafwandlerischen Zustand versetzen. Nein, der Reaktionär lebt ganz in der Gegenwart, nur möchte er herausfinden, was genau der Anlass seiner Verwandlung war. Dies ist der Punkt, an dem offensichtlich wurde, dass etwas schief läuft, und darauf reagiert er. In der Vergangenheit gräbt er nur, um herauszufinden, ab wann etwas aus dem Ruder gelaufen ist, um es klarer benennen zu können.
Diffamierungen, er würde die Vergangenheit wieder herstellen wollen, bringen den Reaktionär in Wallung, denn er sieht sich als Korrektor, jemand muss doch darauf hinweisen, dass hier was falsch läuft. Und die die ihn diffamieren, sind genau die die dafür verantwortlich sind, dass der Kahn aus dem Ruder läuft. Hier muss man eingreifen, hier muss man reagieren. Reaktionär zu sein, bedeutet für ihn, auf erkannte Fehlentwicklungen zu reagieren, sie zu korrigieren. Bislang hat nur er erkannt, dank seiner Metamorphose, dass die Situation unerträglich geworden ist.
An Erweckungsereignissen, Vorgänge die die Metamorphose von ganz gewöhnlichen Menschen hin zu Reaktionären einleiten, mangelt es derzeit nicht, demzufolge auch nicht an Reaktionären. „Bis hierher konnte ich mit gehen,” sagt der nun Sehende „doch das was nun geschieht, ist falsch.“ Er ist zum Reaktionär geworden, ohne dies selbst bemerkt zu haben. Nur die Umstände seiner Verwandlung wird er nie vergessen, den Anlass warum sich sein Weltbild veränderte.
Diese und weitere Imagenationen hier im: Der Mitläufer
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