1982/83, während meines Ausreiseantrages, sind mir manche meiner Nachbarn in der DDR aus dem Weg gegangen, wollten nicht mit mir in Verbindung gebracht werden, doch genau dieselben Leute gingen 1989 zu den Montagsdemos auf die Straße. Als mir später meine Nachbarn, die ich noch als Systemmitläufer und Opportunisten kannte, stolz erzählten, was auf ihren Montags–Demos erleben, war ich über den Sinneswandel schon erstaunt. Was ist in der Zwischenzeit passiert?
Das geht nicht, ohne sich die Leute anzuschauen, die auf diesen Demos mitmarschierten, die in ihrer Masse das System ins Wanken brachten. Es waren nämlich nicht, jedenfalls nicht hauptsächlich, Oppositionelle im klassischem Sinn – also Menschen die in ihren Kreisen theoretische Alternativen zum Bestehenden entwickeln – sondern mehrheitlich Menschen wie meine Nachbarn. Bis Mitte 1980er Jahre wären sie als angepasst und nicht auffällig zu beschreiben gewesen.
Freilich waren sie keine Anhänger des Systems DDR oder des Sozialismus, hatten immer einen vergleichenden Blick in den Westen, dies allerdings nur in ihren privaten geschützten Räumen und in ihren Kreisen, niemals in der Öffentlichkeit oder Fremden gegenüber sich offenbarend. Man hatte sich eingerichtet im Haus DDR, was blieb einem auch anderes übrig. Einen zu offensichtlichen Kontakt, gar freundschaftliche Beziehungen, zu Menschen wie mir – einem der offen gegen das System seit Jugendtagen opponierte, den Wehrdienst verweigerte, Volkskammer- und andere Farce-Wahlen boykottierte, einen Ausreiseantrag stellte – wollten sie nicht riskieren. Ich habe mir oft über dieses Verhalten Gedanken gemacht, es waren ja Leute die ich kannte, keine abstrakten theoretischen Gebilde. Warum hatten sie zwei Gesichter, ein öffentlich angepasstes und ein privat kritisches? Es wird keine allgemeingültige Antwort darauf geben und auch nicht vollständig mit Opportunismus und Mitläufertum beschrieben werden können. Eher mit dem Bedürfnis, des sich Einrichtens im Gegebenen, einem Haus in welches man hinein geboren ist und in dem man nun nach den Bedingungen, die da herrschen, lebt. Warum man dort lebt, wo man lebt, das ist eben Schicksal oder Vorsehung.
Nun erzählten sie mir kurz nach der Wende, als ich meine alte Heimat besuchte, was sie auf ihren Demos erleben, großer Stolz im Klang der Stimme und ich konnte kaum glauben, was ich hörte. Waren es wirklich die gleichen Leute, die ich mal glaubte zu kennen? Wie konnte es geschehen, dass aus ihnen, innerhalb weniger Jahre, scheinbar Oppositionelle geworden waren. Denn als solche sahen sie sich nun, der Erlebnis der Befreiung vom Sozialismus veränderte offensichtlich auch ihren Blick zurück in eigene Vergangenheit.
Irgendwas musste also geschehen sein, zwischen 1983 als ich die DDR verließ und 1989, als die Mauer fiel. Ich hatte von dieser Veränderung nicht viel mit bekommen und kaum noch Kontakt zu Menschen in meiner alten Heimat, von den Eltern mal abgesehen. Alle Kumpels aus unserer Oppositionsclique waren teils schon im Westen oder kamen kurz danach. In dem Moment, als ich die mir verhasste Ostzone verlassen hatte, schaute ich nicht mehr zurück, ich hatte sie besiegt, war nun im Westen, die Welt stand mir offen, also kümmerte mich nicht weiter darum, was dort vorging.
Heute hört man nun vielerorts, dass es die Oppositionellen in der DDR waren, die Dissidenten, die für ihre Überzeugungen kämpfen, dafür teils ins Gefängnis gingen, teils ausgebürgert worden, dass diese maßgeblich für den Fall der Mauer gesorgt haben. Ich möchte deren Leistungen, ihren Mut, ihre Selbstlosigkeit überhaupt nicht klein reden, doch solche Personen hat es die ganze Zeit gegeben und die haben letztlich nie was bewegt. Klar können sie wie Massenkristalle wirken und, wenn die Umstände entsprechend sind, auch Bewegungen auslösen, doch hauptsächlich nur in ihren Kreisen. So richtige Massenbewegungen auszulösen, das schaffen sie nicht.
Der andere Grund, der auch gern im Zusammenhang mit dem Fall der Mauer genannt wird, die veränderte geopolitische Lage durch Gorbatschow, die Unruhe durch Solidarność in Polen, also die Verfallserscheinungen im real existierenden Sozialismus, wiegt schon schwerer. Hoffnung auf Veränderung keimte auf. Doch selbst das hätte meine Nachbarn nicht auf die Straße gebracht, Antrieb sein können, ihre private Sicht öffentlich zu machen.
All dies war für die Menschen zumeist zu imaginär, zwar hörten sie davon, betraf aber kaum ihre Lebenswirklichkeit. Etwas anderes war geschehen. Ab etwas Mitte der 1980er Jahre schwoll die Ausreisebewegung so stark an, dass sie Massenwirksam wurde und die DDR-Führung sah sich genötigt, diese Anträge etwas großzügiger zu behandeln. Nun kannte auf einmal fast jeder jemanden, der dem Land den Rücken kehren wollte oder schon weg war. Diese Ausgereisten, ihre Briefe und Postkarten aus Sehnsuchtsorten, waren allgemeines Gesprächsthema und verstärkte bei denen, die ihre Heimat nicht verlassen wollten oder konnten, das Gefühl, benachteiligt zu sein. Sie wollten auch erleben, sehen und haben, was der Kollege, der Cousin, der Nachbar nun im Westen hatte.
Auf einmal gab es eine realistische Alternative in der Lebensplanung, mit der Option in den Westen zu gehen. Freilich erforderte dies auch Mut, doch mit jedem Bürger, der das Land verlassen hatte, den man auch persönlich kannte, wurde dieser Mut größer, warum es nicht auch versuchen. Die Stimmung im Lande kippte, ausgelöst von der realistischen Option einer alternativen Lebensplanung und verstärkte, bei denen die nicht gehen wollten, das Gefühl der Benachteiligung. Wer blieb, hatte die Arschkarte gezogen und die verunglimpfende Bezeichnung für die DDR „Der Dämliche Rest“, wurde gefühlte Wirklichkeit. So war denn auch auf den Montagsdemos der Spruch: „Wir bleiben hier!“, geradezu ein Aufschrei gegen die Benachteiligung.
Aus diesem Gefühl wurde schließlich ein Zorn auf das System, die Eliten, die Ideologie und trieb die Menschen, die ihren Zorn nicht mehr unter Kontrolle hatten, auf die Straße. Irgendwelche Utopien, wie sie die Dissidenten oder die intellektuelle Opposition entwickelten, die braucht man nicht, der Zorn allein, von den Philosophen auch Thymos genannt, genügte.
Wenige Menschen nur gestehen sich ein, dass der Zorn sie zum Handeln zwang, sie versuchen dann im Nachhinein andere edlere Begründungen für ihr Streben zu nennen. Das taten meine Nachbarn auch, die dann von Freiheit sprachen. Auch ich selbst habe mir über viele Jahre eingeredet, mein Ausreiseantrag, ja mein ganzes Verhalten in DDR, wäre vom Wunsch nach Freiheit genährt worden. Doch das ist nur die halbe Wahrheit, ohne den empfundenen Zorn gegen die Unterdrücker hätte ich nie den Mut und die Kraft gefunden, das zu tun, was ich tat.
Nun erlebten wir zum Jahrestag des Mauerfalls die üblichen Sonntagsreden, wie üblich verwässernd, idealisierend und nach schönen Erklärungen suchend. Doch alle diese Leute habe nicht die Mauer gestürzt, bestenfalls etwas dazu beigetragen, immerhin, doch der Hautgrund waren die zornigen Menschen, die genug von der Benachteiligung hatten, die Freiheit erleben, FREIHEIT LEBEN wollten, ganz ohne theoretischen Überbau, sie hatten einfach nur genug von der Bevormundung, der Benachteiligung, der Lüge. Ohne die Ausreisewelle, die den Menschen eine realistische Option zeigte, dieses Unrecht überwinden zu können, wäre der Wunsch nach Freiheit ein süßer Traum geblieben, der niemals Zorn geworden wäre. Und ohne Zorn wären meine Nachbarn auf dem Sofa geblieben. Der Zorn brach die Mauer, nicht die Utopie. Und es ist auch heute der Zorn, der die Menschen auf die Straße treibt. Vergesst die Sonntagsreden, sie erklären nichts, sie suchen nur Rechtfertigungen.
Zu meinen Ausreiseantrag ist eine Serie hier und bei AchGut erschienen und ist außerdem als Buch erhältlich.
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17 Kommentare Auf der Achse zu diesem auch dort erschienenen Text.
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