19. April 2015

Kindesentführung und ein privates Begrüßungsgeld

Nun wurde also unser Ausreiseantrag bearbeitet, dies wurde uns mündlich auf dem Ministerium des Inneren in der Stadt Glauchau mitgeteilt. Verbunden mit der Aufforderung keine weiteren Briefe oder Forderungen an die staatlichen Behörden zu stellen. Diesmal fehlte allerdings der Hinweis, dass wir, sollten wir weiter die Behörden belästigen, dies eine strafbare Handlung sei. Wir wussten nicht, wie dieses Bearbeiten aus sieht, nur was es für uns bedeutete: Bald haben wir es geschafft. In der Zwischenzeit hatten wir unser drittes Kind, nach zwei Söhnen eine Tochter, bekommen. Die örtliche Entbindungsklinik war in Meerane, einem kleinen Nachbarstädtchen. Dass ausgerechnet sie am 3. Oktober zur Welt kam, und genau dieser Tag noch zum Feiertag werden sollte, hätten wir uns natürlich nicht träumen lassen. Ein paar Tage, wie das so üblich ist, sollten Mutter und Kind noch in der Klinik bleiben, und ich besuchte beide dort natürlich täglich.

Dann war unser Kind auf einmal weg. Als ich zur üblichen Besuchszeit eintraf stand meine damalige Frau mit gepackter Tasche vor der Tür, man hatte unsere Tochter abgeholt und nicht mitgeteilt wohin sie gebracht wurde und warum. Wir bekamen keine Auskunft in der Klinik wo das Baby ist, nur dass bei der letzten Untersuchung eine Unregelmäßigkeit im Bauch fest gestellt worden sei. Es war aber niemand zu sprechen, der irgendwie genauer Auskunft geben konnte. Schließlich nach mehrstündiger Suche fanden wir sie in einer Kinderklinik. Da war es schon Mitternacht vorbei und nur die sehr freundliche und hilfsbereite Nachtschwester der Kinderklinik, in der sich nun unsere Tochter befand, war dort. Diese konnte uns nicht mitteilen was mit dem Kind nicht Ordnung wäre, es wäre ganz normal und unauffällig und auch ihre Kollegen hätten nicht verstanden, warum es in diese Klinik eingeliefert worden ist.

Wir wissen bis heute nicht, was hinter dieser Aktion steckte, ein neu geborenes Kind der Mutter einfach weg zu nehmen, ohne genaue Begründung, und noch dazu keine Auskunft darüber, wohin es verbracht wird, war selbst in der DDR nicht normal. Unsere Vermutung war sofort, dass dies mit dem Ausreiseantrag zu tun hat, was ja auch naheliegend war, allerdings wissen wir es bis heute nicht, ob dies so stimmt. Dem Kind fehlte nämlich nichts. Gleich am nächsten Tag verlangte ich den Klinikchef zu sprechen, und teilte ihm mit, wenn er mir nicht definitiv sagen könne, was mit unserer Tochter sei, werde ich sie abholen. Auch von ihm bekamen wir nämlich nur ganz vage Auskünfte. Dass da irgendwas im Bauch sei, was ganz schlimm sein könne, aber auch gar nichts zu bedeuten haben muss. Auf jeden Fall müssten sie sie weiter beobachten. Er, der Klinikchef, wirkte sichtlich unwohl in seiner Haut, was unseren Verdacht natürlich verstärkte.

Ich muss wirklich noch mal meine Stasi-Akte einsehen, vielleicht findet sich da was drüber. Diese Ausreiseantrag-Serie hat nicht nur in mir Erinnerungen wach gerufen, über Vorgänge die noch nicht geklärt oder persönlich aufgearbeitet wurden, sondern auch offensichtlich bei den Lesern. Es erreichen mich Emails mit Vorwürfen, ich sei nie ein Oppositioneller gewesen, da ich nicht im Knast war, bis hin zu Kopien von Stasi-Akten, in denen beschrieben wird, ob der Observierte zu Feiertagen die Flagge raus gehängt hat, meine Darstellungen also bestätigt werden. Nicht nur ein bisschen habe ich den Eindruck, in der ehemaligen DDR sind die gleichen Verdrängungsmechanismen wirksam, die die Gesellschaft in Westdeutschland nach dem Ende der Nazizeit prägten. Nicht alles war schlecht, eigentlich waren wir dagegen, bis hin zu Verschwörungstheorien. Ich will das nicht verurteilen, manchmal braucht es eben seine Zeit um die Vergangenheit einigermaßen emotionslos aufzuarbeiten. Mir gelingt das bis heute nicht.

Meinen Verdacht sagte ich dem Klinikchef auf den Kopf zu. Direkt und ohne Schnörkel, und war kurz davor meine Selbstkontrolle zu verlieren. Er brach daraufhin das Gespräch ab, und wollte sich mit mir nur noch unter Gegenwart eines Zeugen unterhalten. Dieser Zeuge war ein weiterer Klinikangestellter, so wurde er mir jedenfalls beim nächsten Gesprächstermin vorgestellt. Noch immer wurde uns nicht gesagt, was denn eigentlich mit unserer Tochter sei, nur irgendwelche nebulöse Ausflüchte. Ach ja, mit Sorgerechtsentzug wurde natürlich auch gedroht, falls wir versuchen das Baby abzuholen. Aber immerhin konnte meine Frau nun mehrmals täglich in die Klinik kommen, um unsere Tochter zu stillen. Nach ein, vielleicht auch zwei Wochen, wurde dann unsere Tochter aus der Klinik entlassen, ohne Diagnose oder uns mitzuteilen, was denn diese Beobachtung dort ergeben hätte. Auch der Kinderarzt konnte sich später keinen Reim darauf machen.

Ich frage mich bis heute, wie dieser Vorgang ausgegangen wäre, hätte es nicht diese freundliche Nachtschwester gegeben. Die ließ uns nämlich, in der Nacht als uns unsere Tochter zuvor weg genommen wurde, entgegen ihrer Vorschriften in die Kinderklinik hinein, damit wir überprüfen konnten, ob das eingelieferte Baby auch unseres sei. Diese Kindesentführung kann, muss nicht mit unserem Ausreiseantrag zu tun haben. Damals waren wir überzeugt, dass es so ist. Doch eigentlich ist dies nicht mal so wichtig, es wirft aber einen entlarvenden Blick auf eine Gesellschaft, in der es möglich ist, derart mit jungen Eltern umzugehen.

Und noch ein letztes Wort zu unserer Tochter, es hat mit ihrem Namen zu tun, den ich hier aber nicht nennen werde, wer es unbedingt wissen möchte kann nach der zweiten Ehefrau des Schriftstellers Oskar Maria Graf googeln, nach ihr ist sie nämlich benannt, und nicht nach der Schwester des Moses, wie eine ältere Dame von der Kirchengemeinde meinte, als sie uns gratulierte. Es war eine taffe Frau, deren Namen unserer Tochter bekam, sie blieb als Jüdin auch nach der Machtergreifung der Nazis noch in Deutschland, obwohl sich ihr Mann schon im Exil in Österreich aufhielt, um bei der Reichstagswahl am 05.03.1933 ihre Stimme abzugeben. So berichtet es jedenfalls Rolf Recknagel in seiner Biographie über Graf mit dem Titel »Ein Bayer in Amerika«. Dieses Buch ist mir in einer Buchhandlung, oder Antiquariat, in Weimar oder Erfurt in die Hände gekommen. Graf, wie auch Recknagel sagten mir vorher nichts, der Titel war es, weshalb ich es kaufte. Natürlich musste mein Kollege, der Ex-Lehrer, sofort seinen Senf dazu geben. Aber weniger zu Graf, sondern zu Recknagel, und dass der so eine tolle Biografie über B. Traven geschrieben hätte. Lehrer können manchmal unmöglich sein, auch wenn es sich um Ex-Lehrer handelt, möchten sie nicht zugegeben, mal was nicht gekannt oder gewusst zu haben, und lenken dann gleich ab.

Allerdings war der Hinweis ganz hilfreich, denn für diese Biographien begann ich mich zu interessieren, fühlte mich irgendwie schicksalsverwandt. Die hatten ja auch ihr Land verlassen, wenngleich nicht immer freiwillig, kamen aber dennoch nie davon los. Vor allem Graf schrieb in seinem späterem New Yorker Exil einige seiner wohl bekanntesten Werke. Und ich fragte mich, ob es mir nicht vielleicht genauso gehen würde, ob ich in einer neuen freien Gesellschaft mich dennoch immer weiter mit dem Ort und den Menschen meiner Herkunft und Heimat beschäftigen würde. Die Frage ist bis heute virulent, auch der Vergleich zu den Exilanten noch aktuell. Warum sind so viele nicht nach Deutschland zurück gekehrt, als die Nazis besiegt waren? Zumindest für mich kann ich es beantworten. Es ist diese unzureichende Aufarbeitung der Vergangenheit, die durch Verdrängungsmechanismen geschönt wird, es war ja alles nicht so schlecht. Opportunisten deuten ihre Vergangenheit um, sehen ihr Verhalten nun als Widerstand (warum muss ich hier nur an Günter Grass denken?), Stasileute werden in Parlamente gewählt, ohne dass ein Riesenaufschrei geschieht. Und die SPD, diese Verräter, legen sich mit Gysi und Konsorten ins Bett. Nicht nur in Thüringen, dort aber als Steigbügelhalter besonders widerwärtig.

Adenauer sagte nach dem Krieg: „Man schüttet kein dreckiges Wasser aus, wenn man kein reines hat!“ Und meinte damit, wir müssen eben die alten Nazis und Mitläufer weiter beschäftigen, weil es aus pragmatischer Sicht kaum anders geht. Genauso wurde auch nach der Wende in den neuen Bundesländern gehandelt, oder nicht gehandelt, wie man will. Bevor wütende Protestmails kommen, nein, ich vergleiche nicht die DDR mit den Nazis, sondern erkenne nur gemeinsame Mechanismen in der Aufarbeitung der Vergangenheit, und im Neuanfang nach dem Zusammenbruch des alten Systems. Heute verstehe ich die alten Exilanten wie Oskar Maria Graf, und die vielen andern, warum diese nicht ins Nachkriegsdeutschland zurück kehren konnten, mir geht es ähnlich.

Das letzte halbe Jahr für uns in der DDR ist dann eigentlich recht ruhig verlaufen. Wir wussten ja wie es der Reihe nach weiter gehen würde, wenngleich eine Sicherheit deswegen nicht bestand. Eine Nachbarin meldete Interesse an unseren Grünpflanzen an, nichts richtig aufregendes. Dann ging es aber ganz schnell. Entlassung aus der Staatsbürgerschaft, Wohnungsaufgabe, Laufzettel. Als Highlight natürlich die Abgabe des Wehrpasses. Gemustert war ich ja, und als Ver­wei­ge­rer des Wehrdienst mit der Waffe, den Pionieren zugeordnet wurden. Meines Wissens geschah dies mit allen sogenannten Bausoldaten. Ein kleine Schikane diesbezüglich war, dass man diese Bausoldaten erst sehr spät einzog, wenn diese schon Mitte zwanzig oder älter waren. So kam ich um den Wehrdienst, mit dreiundzwanzig habe ich die DDR verlassen.

Abschied auf dem Bahnhof, einige Freunde und Kollegen kamen, obwohl sie wussten, oder annehmen mussten, dass von der Stasi registriert wird, wer sich von uns verabschiedet, wer sich da einfindet. Viele von denen auf dem Bahnhof, sollten uns später folgen. Das war das Problem für die DDR oder die SED. Ein jeder Ausgereiste zog quasi automatisch mehrere mit, nach dem diese das Prozedere miterlebt hatten, wurde es zur realistischen Option der Lebensplanung.

Mit drei oder vier Koffer, ein paar Tüten und drei kleinen Kindern, das jüngste neun Monate alt, stiegen wir in den Zug ein und verspürten kein bisschen Wehmut über das was wir zurück ließen. Auch später kam ein solches Gefühl nicht mehr auf, zumindest bei mir nicht, meine damalige Frau habe ich seit mindestens fünfzehn Jahren weder gesehen noch gesprochen, gehe aber davon aus, dass es bei ihr nicht anders ist.

Im Zug schauten dann einige Mitreisende neugierig zu uns, denen viel unser sächsischer Dialekt auf, das Gepäck und die Kinder. Kurz nach der Grenze, bei einem der ersten Halts an einem Bahnhof, half ich einer älteren Frau beim Aussteigen, trug ihren Koffer raus. Sie drückte mir einen Zwanzigmarkschein in die Hand, und sagte: „Willkommen im Westen.“ Offensichtlich hatte sie uns beobachtet. So war unser erstes Westgeld, unser Willkommensgeld, eines von einer Bürgerin, die uns ganz persönlich Willkommen hieß. Sie steht stellvertretend für die vielen anderen Wessis die uns sinnbildlich mit offenen Armen begrüßten.


Epilog

Irgendwann, ich glaube es war 91 oder 92, wollte mein ältester Sohn wissen und sehen wo er geboren ist. Jedes zweite Wochenende waren die Kinder ja sowieso bei mir, und so besuchten wir meine Eltern und ihre Großeltern, mein nun seit einigen Jahren ebenfalls in Stuttgart lebender Bruder war auch dort. Also zeigte ich den Kindern den Ort an dem sie geboren wurden, den Neubaublock in dem wir vorher wohnten, die Schule und die Kirche. Mein Bruder ging auf einen Besuch in seine frühere Stammkneipe, zum Fischer Lothar, wie wir sie der Einfachheit genannt haben, nach Schönbörnchen. Dabei nahm er meinen Ältesten mit. Als die beiden zurück kamen war er sichtlich verstört, meinte, dass er sich das nicht noch mal antut. Die meisten derer die in dieser Kneipe saßen, waren auch nach der Wende nicht aus ihrem Ort raus gekommen, doch schwangen sie große Reden und wussten alles ganz genau. Das fand er verstörend, wusste nur noch nicht, dass das im Westen mitunter nicht anders ist.

Allerdings wurde ich auf der Rückfahrt nach Stuttgart mit Fragen bombardiert, er wollte verstehen was er gesehen und gehört hatte. Ich antwortete so gut ich konnte. Irgendwo zwischen Nürnberg und Heilbronn, wurde er dann ganz still, einige Minuten. „Papa“ so unterbrach er die Stille, „Papa, Danke! Danke, dass ich dort nicht aufwachsen musste.“

Ich musste mir ein paar Tränen des Glücks verschämt von der Wange wischen. Die Begründung unseres Ausreiseantrags mag vielleicht vorgeschoben gewesen sein, am Ende war sie aber doch wahr geworden.


ENDE


Die Ausreiseantrag-Serie:

#1Ein politisierter Osterstrauß
#2Sind so kleine Hände
#3Briefe. Und ein kalter Wind
#4Plattenbauten und eine rote Flagge
#5Prag, die Sächsische Schweiz und Amerika
#6Kindesentführung und ein privates Begrüßungsgeld



Diese Serie ist ebenfalls als Buch erschienen, ergänzt mit einigen Begebenheiten rund um das, was vorher geschah.

Paperback
120 Seiten
ISBN-13: 9783752812558
7,50 €
E-Book
ISBN-13: 9783752837049
4,99 €






6 Kommentare :

  1. Tränen ...
    Deine Geschichte nimmt mich echt mit.

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  2. Danke für die beeindruckende Serie.

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  3. Schöne Serie, die zeigt, dass die linke Ideologie in die Unfreiheit führt
    und wie subtil die Unfreiheit in jede Pore der Gesellschaft dringt.
    Ich denke Dein Sohn hat es auf den Punkt gebracht.
    Dank des Mutes von Dir und Deiner Frau musste er nicht in einem maroden Unrechtsstaat der DDR aufwachsen.

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  4. Vielen Dank. Wenn ich ehrlich bin, dann habe ich diese Serie eigentlich für mich selbst geschrieben, es hat mir geholfen die Vergangenheit ein Stück weit zu bewältigen, und mich auch mit ihr auszusöhnen. Aber vielleicht hilft es auch gerade Wessis, besser zu verstehen, wie sich das Leben in der DDR darstellte, mit dieser subtilen Unterdrückung die in jede Pore kriecht, wie Günter sehr treffend sagt.

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  5. In der DDR war es nicht üblich, Kinder bereits in der Entbindungsklinik von ihren Familien zu trennen, heute passiert das regelmäßig.

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    1. Ich verstehe nicht, was mit diesem Einwand gemeint sein könnte. Die Kinder mit meiner ersten Frau sind alle in Meerane geboren worden, die mit meiner zweiten in Maasin (Southern Leyte, Philippinen) und als letztes, das jüngste in Nürtingen (BW). Ich wüsste nicht, wo regelmäßig Kinder von ihren Familien getrennt werden.

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