Vor etwa zwei Wochen fand ich im Briefkasten ein Gratisexemplar der Zeitschrift liberal⁽¹⁾. Gut gemacht, so finde ich - lohnt sich rein zu schauen. Beim ersten Durchblättern fiel mir sofort ein Artikel von Karl-Heinz Paqué auf, mit dem Titel: Zurück zum Fortschritt!⁽²⁾ Hier wird unter anderem der Frage nachgegangen, warum der Liberalismus in einer freiheitlichen Gesellschaft so wenig Attraktivität entwickelt und ob es besondere Umstände gibt, die den Liberalismus befördern. Kurz: "Je mehr Freiheit herrscht, desto weniger wird sie gewürdigt." Die alltäglichen Probleme treten in den Vordergrund und über so fundamentale Dinge wie die Freiheit wird nur in Stunden der Besinnung nachgedacht.
Mit dieser, an und für sich simplen, Erklärung lässt es Paqué aber nicht bewenden, sondern macht klar, dass es Zeiten gab, in denen liberale und freiheitliche Gedanken einen Prozess auslösten, der erst später seine Wirksamkeit entwickelte, dann aber nicht mehr mit den liberalen Weichenstellungen in Verbindung gebracht wird, weil eben das Errungene als selbstverständlich angesehen wird. So etwa der Wirtschaftsaufschwung nach der Vereinigung Deutschlands 1871, der auch ein Folge von Freihandel und Deregulierung war, Forderungen die bis 1848 zurück gingen. Oder nach dem Krieg 1945, als nach den Erfahrungen von Diktatur und Unfreiheit, mit dem Modell der sozialen Marktwirtschaft wieder liberale und freiheitliche Konzepte Einzug hielten. Die Frage die sich hier nun stellt, gibt es gewisse Zyklen, in denen liberale Vorstellungen in den Vordergrund rücken um dann, wenn Entsprechendes umgesetzt wurde, wieder in den Hintergrund treten. Gewissermaßen wie Konjunkturzyklen, in ihrer Abfolge von Wachstum, Stagnation und Krise.
Nun sind Konjunkturzyklen selbst in der Wirtschaftswissenschaft umstritten, weniger das es solche gibt, als mehr was die jeweiligen Ursachen sind. Meist weiß man es erst hinterher. Umso mehr muss dies auf die Politik zutreffen und automatische Zyklen zwischen Freiheit und Liberalismus auf der einen, sowie Regulierung und Ideologie auf der anderen Seite, wird es nicht geben. Doch es gibt einen permanenten Wettstreit zwischen Ideologien, bei dem dann Freiheit und Liberalismus schnell unter die Räder geraten. In Zeiten der Krise, vor allem wenn diese wirtschaftlicher Natur ist, kursieren eine Vielzahl von Vorschlägen, wie man dieser begegnen könne. Werden die richtigen Entscheidungen getroffen, folgt eine Phase der Stabilität und wirtschaftlicher Dynamik. Aber tatsächlich täuscht dieser Erfolg dann darüber hinweg, dass notwendige Anpassungen nicht mehr erfolgen, was längerfristig die nächste Krise verursacht.
Die Entscheidungen die in Krisenzeiten getroffen werden, führen aber nicht zwangsläufig zum Besseren, es kann sich auch verschlimmern. Es kommt auf die Diagnose an, wenn sie falsch ist, wird die Behandlung dem Patienten nichts nützen, unter Umständen sogar sehr schaden. Denn Krisen werden natürlich unterschiedlich wahrgenommen, jeder denkt in seinen Kategorien und entwickelt Lösungswege gemäß seines Weltbildes.⁽³⁾ Deshalb muss auch jede Annahme fehlerhaft sein, jede scheinbare Lösung ist eine Ursache für die nächste Krise. Das führt uns zur nächsten Frage: wie gehen wir mit Fehlern um? Menschen sind nicht sonderlich begeistert, sich selbst eingestehen zu müssen, Fehler gemacht zu haben. Deshalb muss man sie dazu zwingen, am besten mit dem aufzeigen von alternativen Lösungsmöglichkeiten. Dies befördert dann einen evolutorischen Prozess bei dem aus einer Vielzahl von Alternativen eine Selektionsprozess entstehen kann (A. Mingst). Ideologiebasierte Lösungswege müssen nicht zwangsläufig völlig falsch sein, sie führen jedoch über kurz oder lang zu einem Mangel an Alternativen aus denen man selektieren könnte. Und hier liegt die wirkliche Gefahr. Liberalismus als solcher gibt keine Lösungswege vor, aber er stellt sicher, dass immer genügend Alternativen zur Auswahl bereit stehen und ist damit ein Gegenpart zu Ideologien, deren Hauptmerkmal das ignorieren von Alternativen ist.
Wenn eine Ideologie gescheitert ist, brechen die Alternativvorschläge hervor, was dann in der allgemeinen Wahrnehmung der Zeitgenossen entweder als Chaos oder als Chance begriffen wird. Im Rückblick erscheinen solche Zeiten als der Punkt an dem eine entscheidende Weichenstellung vorgenommen wurde. Und vielleicht kann man hier einen gewissen Zyklus erkennen, der aber nur dann entsteht, wenn Alternativen von Ideologien unterdrückt werden. Das unterdrücken von Alternativen, ist aber auch ein unterdrücken von Freiheit. Ideologien gaukeln eine Gewissheit vor, die es nicht gibt, doch diese vermeintliche Gewissheit macht sie attraktiv, solange bis die Ideologie an der Wirklichkeit scheitert.
Überspitzt könnte man also sagen, Liberalismus ist deswegen nicht so beliebt, weil er nicht vorgibt Antworten auf Probleme zu haben, sondern eine Palette von Vorschlägen macht, aus denen sich dann der zur Zeit beste durchsetzen sollte. Damit wird man aber keine Massen gewinnen und deshalb meint Paqué, der Liberalismus braucht ein weiteres großes Ziel neben der Freiheit, da diese von den alltäglichen Problemen in den Hintergrund gedrängt wird. Im 19. Jahrhundert war das große Ziel die nationale Einheit, nach 1945 der Wiederaufbau. Doch was könnte heute das große zweite Ziel sein, Paqué hat keine Antwort darauf. Ich auch nicht, mir genügt aber auch die Freiheit und die damit verbundene Ablehnung jeder Ideologie.
Verweise / Erläuterungen:
(1) liberal – Debatten zur Freiheit. Vierteljahresheft der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit.
[liberal]
(2) In der FAZ erschien am 11.05.2012 ein gleichnamiger Artikel von Paqué, der allerdings nicht genau gleichen Inhaltes ist, doch sehr nahe kommt.
[FAZ-Artikel auf portal liberal]
(3) Alexander Mingst: "Ein solches, in sich geschlossenes System von Überzeugungen soll im Folgenden als Weltsicht bezeichnet werden und umfasst die individuellen kognitiven Strukturen, die der Wahrnehmung und Strukturierung der Umwelt dienen und somit ein Bild über die Welt und die eigene Identität erzeugen."
[Politische Prozesse und die Rolle von Ideologien]
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