18. Dezember 2015

Die Grenzenlose

Ursprünglich war die Grenzenlose weiblich, heute nicht mehr, derartige Zuordnungen sind ihr zuwider geworden. Denn wenn es weiblich gibt, dann muss eine Grenze zu nicht-weiblich gezogen werden. Und Grenzen werden verteidigt, sonst wären es ja keine, sie sind somit der Anfang aller Disharmonie. Hier etwas was ist, dort etwas was nicht ist. Abgrenzen bedeutet Gegnerschaften aufzubauen. Von kulturellen Unterschieden wird gesprochen, oder biologischen. Klar weiß sie, dass sie keinen Penis hat, doch was bedeutet das schon, es sind nur Äußerlichkeiten, im Grunde gibt es keine Unterschiede. Die Kultur hat die Menschen verblendet, sie erkennen nicht mehr den innewohnenden Geist einer Sache, der überall gleich ist, weil alles zusammen gehört, alles den gleichen Ursprung hat.

Als Kind bekam sie Spielsachen für Mädchen, sie schämt sich dafür mit diesen Puppen gerne gespielt zu haben. Sie begriff damals noch nicht, dass dies alles Indoktrination ist. Sie wurde zum Mädchen erzogen. Irgendwer hat mal die Unterschiede zwischen den Jungs und den Mädchen auf Grund von Äußerlichkeiten beschrieben. Zuerst in den Religionen, dann in den Wissenschaften, und um diesen Unterschieden einen Sinn zu geben, wurde die Kultur erfunden die die Menschen als kulturelle Wesen beschreibt. Doch alle Kultur ist nur eine große Verschwörung, die uns Unterschiede vorgaukelt, wo keine sind. Der den Dingen innewohnende Geist, der ein universeller ist und keine Unterschiede kennt, wurde verdrängt. Genau darum geht es nämlich auch bei der Vertreibung aus dem Paradies. Von nun an gab es Grenzen. Zwischen Mann und Frau, zwischen Himmel und Erde, und aus diesem Irrglauben, sich abgrenzen zu müssen, entstanden die Völker.

Der universelle Geist wurde vergessen, alles wird nun zugeordnet, ab- und ausgegrenzt. Wissenschaften tun so, als ob irgendwas speziell beschrieben werden könnte, Religionen genau so. Nur der Begriff des Nirvana hat sich ins Zeitalter der Verblendung gerettet und lässt eine Ahnung davon haben, wie die Grenzen überwunden werden können. Nicht nur die in Wissenschaft, Religion oder Kultur beschriebenen, sondern auch die des Individuums. Deswegen ist sie nun nicht mehr weiblich, diese indoktrinierte Verblendung hat sie überwunden. Sie empfindet sich nicht mehr als Individuum, sondern als Teil des universellen Geistes.

Manchmal wird sie als Esoterikerin beschimpft, es trifft sie nicht. Wie blind sind doch diese Leute, die den universellen Geist nicht kennen, nicht wissen, dass dieser auch den Tieren, den Pflanzen und den Steinen inne wohnt. Esoteriker erkennen Grenzen an, meinen nur eine Verbindung zwischen den Dingen und den Lebewesen herstellen zu können und schaffen durch ihre Beschreibungen und Erklärungen doch nur neue Grenzen.

Kürzlich allerdings, im Zug nach irgendwo, wurde sie auf ihren Dialekt angesprochen und jemand fragte sie: „Welche Landsmännin sind sie?“ Sie gab Auskunft und erzählte von ihrer Kindheit. Dabei fühlte sie sich so, als ob sie von einer großen Reise nach Hause zurück gekehrt sei. Der große universale Geist war auf einmal verschwunden, der Ort in welchem der Dialekt ihrer Kindheit gesprochen wird, ließ sie, selbst in der Erinnerung, wieder als Individuum erscheinen.

Im nächsten Bahnhof, es war nicht ihr Zielort, verließ sie ganz schnell den Zug. Sie schämte sich ihrer Sünden. Sie hatte den großen universalen Geist wegen einer dummen Kindheitserinnerung verraten. Sie wird nie mehr wieder in ihrem Dialekt zu Menschen sprechen, nicht mal in Hochdeutsch. Die Sprache schafft Grenzen und Zuordnungen und lässt eine kulturell indoktrinierte Individualität entstehen. Dies ist die Wurzel allen Übels, sie dachte, sie hätte es überwunden, als sie beschloss, nicht mehr weiblich zu sein.


Dossier: Heimat



Diese und weitere Imagenationen hier im: Der Mitläufer

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