19. Februar 2016

Über den Entwicklungszustand einer Nation

Nach wie vor ist ein Ringen ums Selbstbild der Deutschen zu beobachten, sowohl auf individueller Ebene, auch auch auf gesellschaftlicher. Noch immer befindet sich das Land in einem pubertären Zustand, hat weder seine Identität erkannt, noch seinen Platz in der Welt gefunden. Dieses Thema Identität wird auch in Zukunft, zumindest unterschwellig, in allen Diskussionen mitspielen, um so mehr, wenn nicht in eine offene Diskussion darüber eingetreten wird.

Vor dieser aber, einer offenen intellektuell wie emotional anspruchsvollen Diskussion, scheuen sich die Meinungsmacher in den Medien genauso wie die politischen Eliten. Treffend bringt es Joschka Fischer in einem Anfang Januar 2016 gesendeten Phönix-Interview auf den Punkt.
„Die Nachkriegswestdeutschen sind es gewöhnt, dass eigentlich recht früh dieses Nachkriegsdeutschland, dass ein furchtbares Erbe zu tragen hatte, [...]. Es gab automatische Stabilisatoren: Westbindung und Europa. Und ich mag mir nicht vorstellen wie sich ein Deutschland entwickeln würde, wenn es dieses Europa nicht mehr gäbe.“
Die Beschreibung Fischers ist in zwei Punkten bemerkenswert, er spricht explizit von Westdeutschen, und nennt Stabilisatoren in dem Sinne, als er Deutschland nicht als fähig erachtet selbstständig zu sein. Westbindung und Europa sind Voraussetzung für sein Deutschlandbild. Und genau das ist in pädagogisierender Weise den Deutschen über die Jahrzehnte vorgekaut worden.

Nun aber, mit dem Wegfall des bisherigen Ost-West-Konflikts fallen auch die Stabilisatoren weg, ohne diese Orientierungshilfen die bisherigen politischen Eliten hilflos wirken. Zu sehr haben sie sich auf ihr Bild von Europa als Verbund von Ländern verlassen, welches aus einer Wertegemeinschaft eine gemeinsame Identität entwickelt, aus der heraus wiederum gemeinsame Lösungen für Probleme erwachsen. Nun wird aber immer deutlicher, die Krise Europas zeigt es klar, dass ein solches Bild nur Illusion ist. Europa ist eben in erster Linie eine Aushandlungsgemeinschaft von Nationalstaaten, und so funktioniert dann auch ein Miteinander.

Dies setzt aber voraus, dass die jeweiligen Staaten eine Idee von der eigenen Nation haben, und genau hier werden die Defizite des bisherigen Selbstbildes Deutschlands um so deutlicher. Die Stabilisatoren haben sich als Scheuklappen erwiesen, ein begrenztes Sichtfeld entstand und somit ein Selbstverständnis welches wesentliche Fragen, wie die nach der Identität, ausblendete. Nun bricht aber dieses, durch künstliche Stabilisatoren aufrecht erhaltene Selbstverständnis, in sich zusammen, weil es kein tragfähiges Gerüst aus sich selbst heraus entwickelt hat. Mit anderen Worten, die Identitätsfrage ist ungeklärt, sowohl was die Nation betrifft, als auch beim Individuum.

Westdeutschland blickt nun auf etwas, was die Ostdeutschen schon lange erleben. Die Ostdeutsche Identität »DDRler« löste sich schnell auf, sie wurde sowieso als überwiegend künstlich und verordnet angesehen. Ähnliche Prozesse stehen dem Westdeutschen bevor und diese sind nicht darauf vorbereitet, weil die Identitätsfrage in der Nachkriegszeit entweder von Pädagogisierungen geprägt war, oder gänzlich ausgeblendet wurde. Deutschland befindet sich somit im Zustand eines Pubertierenden, der gerade auch noch Waise geworden ist.

Noch ein Wort zu den »DDRlern«. Diese sind heute als Kulturflüchtlinge und Kulturvertriebene zu sehen, je nach dem wie sie zur Identität der DDR standen. Auch dieses Muster lässt sich nun, wenn die westdeutschen Stabilisatoren weg brechen, auf Westdeutschland anwenden. Die DDRler sind nur etwas kritischer gegenüber einem Deutschlandbild, welches durch jahrzehntelange Pädagogisierung entstanden ist. Sie bilden nun eine gewisse Avantgarde bei der neuen unmoderierten Identitätssuche. Sie schämen sich nicht ihrer Gedanken, weil eben die erzieherischen Narrative deren sie ausgesetzt waren, andere als die der Westdeutschen waren, und vor allem keine Gültigkeit mehr haben.

Es soll hier nicht der Eindruck entstehen, dass ich diese Westbindung oder die sich entwickelte europäische Zusammenarbeit als etwas Falsches betrachten würde, im Gegenteil, politisch gesehen gab es sowieso keine Alternative in Zeiten des Ost-West-Konflikts. Diesem Prozess fehlte nur, dass es nicht gleichzeitig eine offene Diskussion über Selbstbilder und Identitäten gab. Die Angst vor einem wieder erstarkenden Faschismus verhinderte dies. Wie oder was man ist, wurde nicht reflektiert, sondern nur etwas von dem man glaubte, so sein zu wollen. Die Stabilisatoren wurden zur formenden Begrenzung und schufen eine Scheinidentität.

Sind wir also wirklich die die wir zu sein vorgeben?

So wie der Ostdeutsche mit dem Verlust seiner kulturellen Heimat zu kämpfen hatte oder hat, so wird dies auch der Westdeutsche tun müssen, teilweise geschieht dies schon. Die Westbindung lockert sich und die europäische Einigung, in der Form wie sie betrieben wurde, steht ebenfalls immer mehr zur Disposition. Beides sind aber die Stabilisatoren der Westdeutschen Identität, nicht nur der Gesellschaft, sondern bis ins individuelle Selbstbild hinein.

Joshka Fischer nannte es Stabilisatoren, ich nenne es Pädagogisierung. Doch nun ist die Zeit im behüteten Elternhaus oder der Schule vorbei, Deutschland sollte langsam erwachsen werden.


Dieser Text entspricht in wesentlichen Teilen dem Vorwort zum kürzlich erschienenen Buch »Deutschland in der Pubertät«. Auch als Ebook erhältlich, beispielsweise hier oder hier.

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