„Auf der A8 bei Leonberg kommt es zu einem Unfall, in dessen Folge es zu einem langen Stau kommt. Wegen Gaffern.” So meldet mir mein Nachrichten-Feed. In letzter Zeit scheint die Spezies der Gaffer ein Coming-Out zu haben, so sehr, dass schon von Strafgesetzen die Rede ist, bis hin zum Knast. Also besser nicht anhalten, nicht bremsen, keinesfalls Fotos machen, schnell den Ort des Unglücks verlassen und nicht irgendwelchen niederen Instinkten folgen. Gehen Sie weiter, es gibt es nichts zu sehen!
Pustekuchen, genau wenn diese Aufforderung von irgendeiner Amtsperson erfolgt, gerade dann ist es interessant. Ein Selbstmörder will sich vom Dach stürzen, ein Haus brennt oder ein schrecklicher Unfall ist passiert. Unsere Lust am Unglück anderer Menschen ist uns zwar peinlich, und doch sind wir glücklich in diesem Moment: Es betrifft nicht mich, ich darf weiter leben, weiter fahren, ich bin ein Überlebender. Diese Lust macht Menschen zu Gaffern, und selbst wenn die Prügelstrafe für sie eingeführt würde, es würde nur neue Gaffer generieren, solche die der Exekution mit schaurig wohligen Genuss beiwohnen.
Dieses Wohlgefühl hat nichts mit der gemeinen Schadenfreude zu tun, der Gaffer wünscht dem Anderen ja dessen Unglück nicht, ihm geht es nur darum, festzustellen, dass er selbst nicht betroffen ist. Er hat in einem schwierigen Umfeld die richtigen Entscheidungen getroffen, oder das Schicksal meint es gut mit ihm, und ist deswegen vom Unglück verschont geblieben.
Nur dieser Selbstversicherung dient das Gaffen, ob auf der A8 bei Leonberg, oder auf dem Sofa vorm TV. Auch mein Newsfeed-Reader ist eigentlich nur ein Werkzeug zum gaffen. Uns selbst erzählen wir natürlich, dass es lediglich um Informationen geht, doch warum lesen wir dann so gerne gerade die schrecklichen Nachrichten? Aus keinem anderem Grund als der Gaffer auf der A8, und wegen dieser Selbsbildes: Ich bin verschont geblieben, habe alles richtig gemacht und Gott meint es gut mit mir. Hochmut stellt sich ein, als Demut vor dem Schicksal getarnt. Zumindest so lange wie man nicht selbst zu den Begafften gehört.
Das kann schnell passieren, vor allem wenn ich in meinen Newsfeed zu den Schweizer Zeitungen komme. Die Eidgenossen, und nicht nur die, eigentlich die ganze Welt, gafft nun nach Deutschland und reibt sich die Augen angesichts unseres Unglücks, unserer Energiewende, unserer Einwanderungspolitik, unserer Bundeskanzlerin. Eine Desaster nach dem Anderen. „Die Schweiz täte gut daran, Deutschland künftig als Drittweltstaat einzustufen, insbesondere, wenn es dort um Infrastruktur- und Verkehrspolitik geht.“ schrieb kürzlich die Basler Zeitung, um gleich noch anzufügen: „Nach Deutschland reisen könnten gleich auch ein paar Juristen, die in Berlin die Bedeutung von Unterschriften erklären.“ Hier geht es zwar um einen Tunnelbau, doch dass nur dies gemeint ist, mit diesen Worten, das glaubt keiner. Die Mekelbananenrepublik ist nun mal eine geworden, in der Versprechungen nichts mehr gelten, oder die sich ihre Infrastruktur selbst zerstört. Beispiele gefällig? Nein, mache ich nicht, das hier ist ein Artikel und kein Buch.
Und ich, tja, ich bin Gaffer und Begaffter gleichzeitig, schaue auf mein Land, fasziniert davon, dass es nicht meine Entscheidungen waren, die zu zu diesen Unglücken geführt haben, und fühle mich bestätigt. Aber das Schicksal wollte es wohl so, dass mich meine Mitmenschen bei ihrer letzter Bundestagswahl in ihr Desaster mitgerissen haben. Ob sie sich in in wenigen Wochen anders entscheiden um nicht mehr begafft zu werden? Merken sie eigentlich, dass sie begafft werden? Wohl kaum, jedenfalls nicht, solange sie nur die News aus unserem Lande zur Kenntnis nehmen. Gehen Sie weiter, hier gibt es nicht zu sehen, so vermelden diese immerzu. Und genauso genauso läuft auch der diesjährige Wahlkampf ab, schön flüssig wie der Verkehr auf der Autobahn soll der sein: Fahren Sie weiter und schauen Sie nicht was passierte. Zur Unterhaltung spielen wir ihnen nun ein Stück aus dem Dieselskandal.
Pustekuchen. Ob die Entscheidungen der Vergangenheit richtig oder falsch waren, sieht man daran, ob man selbst zum Begafften geworden ist, und dazu muss man eben mal kurz anhalten, resümieren, und schauen was geschah. Vor allem: warum es geschah! Nur Ignoranten, denen egal ist was um sie herum geschieht, sagen: mir doch egal was da für Unglücke passiert sind, ich mache weiter wie bisher und höre mir in der Zwischenzeit ein bisschen diese nette Unterhaltungssendung »Wahlkampf« an.
Kommentar veröffentlichen