3. April 2019

Die Hybris der Gockel

Meine Generation hat in ihrer Jugend an der Freiheit geleckt, sie gefühlt und genossen, im Osten zwar nur imaginär, aber dennoch. Sie schmeckte wie das Frühjahr, so voller Versprechen. Nun verwelken die Blüten, der betörende Duft der Freiheit verschwindet. Kurz nur, eine, vielleicht zwei Generationen lang, glaubten die Menschen, die Welt wäre wirklich so, wie sie sie wahr nahmen. Doch es war nur ein Rausch. Und nun, im Kater danach, sind die Sinne beleidigt. Sie wollen nicht akzeptieren was sie sehen. Gebt uns unsere Versprechen, unsere Hoffnung wieder, schreien sie.


Scharlatane, die vorgeben, das Frühjahr wiederbringen zu können, haben nun Hochkonjunktur. Meine Generation, von Entzugserscheinungen schon ganz krank, fällt auf sie rein, zuerst natürlich auf solche, die Sonnenblumen im Wappen tragen. Wir geben euch den Duft der Freiheit zurück, versprechen sie, doch zuerst müsst ihr eure alten Abhängigkeiten loswerden. Manche fordern einen anderen Lebensstil, andere eine andere Identität, die Sonnenblumen fordern beides. Erst wenn das erfüllt ist, dann kommt der Frühling zurück.

Wir wussten nicht, warum Frühling war, wir genossen ihn einfach, wir träumten in seinen Blüten und dachten, es würde immer so sein. Im Rausch wollten wir nicht wissen, wie der Frühling entstand, welche Voraussetzungen notwendig waren, damit die Blüten sprießen und duften konnten.

Wir dachten, es geschieht wegen uns, einfach, weil wir da waren, und eben waren, wie wir zu sein schienen. Wir waren wie Gockel, die glauben, durch ihr Krähen wird die Sonne geweckt. So viele aus meiner Generation glauben das immer noch, die Scharlatane bestärken sie darin.

2 Kommentare :

  1. In der Antike haben die Griechen der klassischen Polis-Zeit die "Orientalen" verachtet, weil sie nur kriecherische Untertanen eines Herrschers waren, während die Griechen ihr Staatswesen selbst gestalteten und sich nur dem Gesetz unterwarfen.
    Dann kam Alexander der Große und der Hellenismus.
    In dieser Zeit haben die Römer der Römischen Republik die Griechen verachtet, weil sie nur kriecherischer Untertanen irgendwelcher Herrscher waren, während die Römer ihr Staatswesen selbst gestalteten und sich nur dem Gesetz unterwarfen.
    Dann kam die Kaiserzeit in Rom.
    In der Spätantike haben die Germanen der Völkerwanderungszeit die Römer verachtet, weil sie nur kriecherischer Untertanen waren, während die Germanen freie wehrhafte Männer waren.
    Ich fürchte, das ist der Lauf der Welt. Freie selbstbestimmte Bürger eines Volkes oder Landes werden zu kriecherischen Untertanen.

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  2. Die Dialektik der Freiheit ist, dass sie nur als Antagonismus zur Unterdrückung verstanden werden kann. Denn eine gewaltfreie Gesellschaft, die von Anarchisten bis John Lennon und den Hippies träumen, ist ein Oxymoron. Jeder vollzogene Wandel führt zu einer Phase der Stabilisierung, in der sich neue Machtstrukturen verfestigen und immer eine Unterdrückung auslösen. Lediglich die Formen unterscheiden sich. In manchen Fällen gibt es Morde, Scheinprozesse oder andere Unsäglichkeiten, in Anderen droht die gesellschaftliche Ausgrenzung und der soziale Tod.

    Aktuell tarnen sich die Unterdrücker als Freiheitskämpfer gegen eine herbeigesehenten Gefahr von Rechts, die angeblich jene Freiheit bedrohen. Darum muss man diese in Ignoranz alle Regeln und Anstand bekämpfen ... und wähnt zugleich die Moral auf der eigenen Seite.

    Was aber folgt daraus? Sollen wir aufgeben, die Freiheit als heheres Ziel zu verfolgen? Immerhin besteht die Gefahr, dass wir im Erfolgsfall tatsächlich auch zu Feinden der Freiheit werden könnten. Das alles aber invalidiert nicht den Wunsch nach Freiheit - das Argument wäre nur eine Waffe in der Hand des Feindes.

    Sollen wir die Freiheit im Wertekanon relativieren? Vielleicht, denn die Freiheit kann nicht das oberste aller Werte sein, sondern nur ein abgeleiteter Wert, der dem Leben dient.

    Sollen wir Nachsicht gegen die aktuelle Unterdrücker haben, denn sie sind Opfer jenes Mechanismus? Dies wäre eine Meta-Analyse, die helfen kann, den Feind lieben zu können, auch wenn man seine Taten scharf bekämpft. Menschenhass ist für den Freiheitskampf nicht erforderlich. Das schränkt aber nicht die Entschiedenheit für die eigene Position ein. Das Jesuswort gilt hier: 'Seid klug wie die Schlangen, aber arglos wie die Tauben.' Gemeint sind natürlich nicht die biologischen Spezies, sondern die metaphorischen Eigenschaften.

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