Als Jugendlicher war ich sehr religiös und im Alter von etwa 14 Jahren begann ich die „Offenbarung des Johannes“ für mich zu entdecken. Ja, die ging mir runter wie Öl, es gefiel mir, wie ein zorniger Gott seine Wut über eine verkommene Menschheit auskübelte. Von sieben Plagen ist die Rede, die über die ganze Erde kommen werden, geboren aus dem Zorn Gottes. Ich wusste, meine Mitmenschen haben dies verdient, heuchlerisch wie sie waren, keiner hatte den wahren Glauben verinnerlicht. Doch, um es vornweg zu nehmen, mein Fanatismus war nicht von langer Dauer, er löste sich auf, und wie die Veränderung, vom Fanatiker zum Zweifler geschah, davon will ich hier nun erzählen.
Natürlich wird sich die Verwandlung nicht mit einem einzigen Punkt begründen lassen, das geht fast nie, egal um welches Thema es sich handelt. Im Rückblick bilden sich eher so etwas wie Wegkreuzungen heraus, die einen Wechsel der Richtung einleiteten, obwohl es einem manchmal gar nicht bewusst war, bereits eine andere Richtung eingeschlagen zu haben. Eine solche Kreuzung möchte ich hier kurz beschreiben. Ausgerechnet der Pfarrer unserer Gemeinde pflanzte mir einen Stachel des Zweifels ein, und er tat es aus guten Gründen.
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Es hat eben mit der „Offenbarung des Johannes“ zu tun, diesem letzten Teil des Neuen Testaments. Wie erwähnt, war ich begeistert davon und da ich mich oft im Pfarrhaus aufhielt, ein Sohn des Pfarrers war in meinem Alter und ein Freund, so kam es zu recht ausführlichen Gesprächen mit dem Vater. Eigentlich war der Kumpel oft nur ein Vorwand, das Pfarrhaus zu besuchen, weil ich die immer intensive Unterhaltung mit seinen Eltern suchte. Natürlich war ich auch regelmäßig Gast am Esstisch. Ein evangelischer Pfarrhaushalt ist schon was Besonderes, dieser jedenfalls war es.
Von diesem Pfarrer muss ich allerdings, zum besseren Verständnis, noch eine kleine Episode erzählen. Während der Zeit in seiner vorherigen Gemeinde, einem Ort am Fuße des Erzgebirges, wurde in der DDR über eine neue Verfassung abgestimmt. Das war 1968. Er hatte sich ein paar Dutzend Exemplare der alten DDR-Verfassung von 1949 besorgt, die man in Teilen durchaus noch als liberal bezeichnen konnte. Mit seinen Schülern in der Christenlehre, wie der Religionsunterricht bei uns genannt wurde, und der im Gemeindehaus stattfand, sowie in der „Jungen Gemeinde“ und mit anderen Gemeindemitgliedern diskutierte er dann darüber und wollte die Menschen darauf aufmerksam machen, über was da eine Volksabstimmung abgehalten werden sollte. Eines war ihm als Realist natürlich völlig klar, die meisten Menschen haben weder die alte noch die neue Verfassung gelesen, sie gingen brav zur Wahl und machten dort ihr Kreuzchen, wo man es ihnen sagte, natürlich nicht aus Überzeugung, sondern um nicht anzuecken oder aufzufallen.
Er ging aber noch weiter und hängte zwei selbst geschriebene Plakate in die Fenster des Pfarrhauses, auf einem stand „Lest die Verfassung!“, auf dem anderen „Lest die Bibel!“, was ihm prompt einen Besuch von den Behörden, wahrscheinlich der Stasi, einbrachte, die von ihm verlangten, das Plakat, welches zum Lesen der Verfassung aufrief, umgehend zu entfernen. Gegen die Aufforderung, die Bibel zu lesen, hatten sie nichts.
Schon irgendwie lustig, dass das Lesen einer Verfassung bereits als subversive Aktion betrachtet wurde und natürlich muss ich, bei diesem Gedanken angekommen, auch an unsere bundesdeutsche Gegenwart denken, wie hier ein Kampf um die Deutungshoheit über unser Grundgesetz entbrannt ist, Stichwort: Bundesverfassungsgericht. Aber darauf will ich jetzt nicht weiter eingehen, jeder kann sich seine eigenen Gedanken dazu machen. Ich konnte mir diesen kleinen Vergleich mit der Gegenwart an dieser Stelle nur einfach nicht verkneifen.
Doch kommen wir zurück zur Offenbarung des Johannes, oder zur Apokalypse, wie das letzte Buch des Neuen Testamentes auch genannt wird. Enthusiastisch schilderte ich meine Gedanken dazu meinem väterlichen Freund, als solchen empfand ich den Pfarrer, und war dann doch etwas erstaunt, dass er meine Begeisterung, vom Ende der Welt und die Bestrafung der Lebenden, so gar nicht zu teilen schien. Er ging nicht sofort auf Konfrontation, dazu war er viel zu schlau, sondern brachte Einwände. Etwa den, dass der Autor in der Verbannung lebte und wohl teilweise nicht mehr ganz zurechnungsfähig gewesen wäre. Außerdem sei der Text erst sehr spät in die Heilige Schrift aufgenommen worden und sei immer noch sehr umstritten.
Ihm war mein jugendlicher Fanatismus nicht verborgen geblieben und das machte ihm Sorgen. So deute ich es heute. Also säte er Zweifel und die verfehlten ihre Wirkung nicht, waren sie doch von jemanden vorgetragen worden, den ich verehrte und achtete. Insbesondere seine Ausführungen über kanonische und nicht-kanonische Schriften machten mich neugierig. Von da an wurde mir, nicht sofort, aber Stück für Stück, je länger ich mich mit dem Thema beschäftigte, klar, die Bibel ist nicht Gottes Wort, sondern ein rein von Menschen geschaffenes Buch. Wer will, kann göttliche Eingebungen darin vermuten, für den Gläubigen ist das wohl obligatorisch.
Übrigens, nur nebenbei, auf Arte ist noch bis zum Mai 2023 eine gut gemachte und interessante zwölfteilige Doku mit dem Thema Apokalypse zu sehen. Nur ein Hinweis und Empfehlung an diejenigen, die das Thema interessiert.
Zurück zu meinen Gesprächen mit dem Pfarrer. Er wollte mich wahrscheinlich davon abhalten ein Sektierer zu werden, der aus einer großen komplexen Geschichte sich nur ein paar passende Sätze heraussucht, um diese dann als alleinige Wahrheit über alles andere zu setzen. Dass sich dadurch Zweifel in meinen Glauben insgesamt einschlichen, konnte er nicht voraussehen. Allerdings traue ich ihm zu, dass er es als Kollateralschaden einkalkulierte, ihm mein Seelenheil wichtiger war, als der Glauben, der zudem auf so wackeligen Beinen wie meiner stand. Aber genau dies passierte in den folgenden Jahren, ich verlor den Glauben gänzlich. Dieser Prozess dauerte aber Jahre und geschah etwa zeitgleich mit der Pubertät, zwei Verwandlungen, die mich veränderten.
Heute frage ich mich, ob mir dies auch als Katholik so passiert wäre, denn dort spielt Ritus und Zeremonie eine viel größere Rolle, als in der evangelischen Kirche, die mehr für das gesprochene und gedeutete Wort steht. Vielleicht hätte mich der Ritus gehalten, sozusagen einen schützenden Kokon um mich gesponnen, unter dem dann, einer Insektenpuppe gleich, meine Verwandlung hätte geschehen können. Es ist natürlich nur eine Vermutung, eigentlich nur ein Gedanke, der keine Antwort bekommen kann. Gedankenkonstrukte dieser Art zeigen nur Bilder auf, Szenarien, die rein fiktiv sind. Halten wir uns also an die Tatsachen, ermahne ich mich, obwohl es gar nicht so einfach ist, diese Unterscheidung zwischen Fiktion und Realität, vor allem, wenn Fiktionen zur Erklärung des eigenen Seins gebraucht werden. Manchmal scheint es mir gar, dass Realität ohne Fiktion ein Ding der Unmöglichkeit ist. Deshalb bitte ich auch die geschätzten Leser, mir nachzusehen, wenn ich diese Unterscheidung nicht immer hinbekomme und sich beides miteinander vermischt.
Nun, als meine Verwandlung einigermaßen abgeschlossen war, zumindest glaubte ich das damals von mir, wusste im Alter von etwa zwanzig Jahren noch nicht, dass ein geistig reger Mensch niemals seine Verwandlung abschließen kann, sie passiert nur nach der Pubertät nicht mehr ganz so schnell, schrieb ich einem Freund, der wegen Republikflucht im Knast saß: „Ein Denkmal war es an dem ich mich orientierte, es schien mir perfekt zu sein, unantastbar. Nun habe ich es zerstört, die Trümmer liegen herum und ich habe keine Ahnung ob und wann ich mir daraus wieder einen Orientierungspunkt bauen kann.“ Damit meinte ich meinen Glauben, der war zerstört.
Viele Jahre glaubte ich, der Anlass zu meiner Verwandlung, das was sie in Gang brachte, war die Skepsis, die ich vom meinem Freund, dem Pfarrer, eingeimpft bekam. Vielleicht wäre es aber auch so passiert, weil es eben meiner Natur entspricht. Es wird eine unbeantwortete Frage bleiben müssen, jedenfalls so lange, bis ich hundertprozentige Klarheit über mich selbst habe, was aber nie geschehen wird.
Doch warum schreibe ich hier überhaupt über meinen religiösen Fanatismus, der meine Jugend begleitete? Der Grund ist einfach, er begegnet mir heute wieder tagtäglich beim Blick in die Medien. Jugendliche kleben sich auf der Straße fest, weil sie überzeugt sind, nur so können sie eine verkommene Menschheit wach rütteln. Uns droht der Zorn der Natur und Plagen werden uns heimsuchen, Krankheiten und Katastrophen. Wir sind die letzte Generation, die das noch verhindern könnte.
Zugegeben, anfangs habe ich über diese Fanatiker noch gelacht und wohl auch manches Mal ausgesprochen: „Oje, wie sind die doch bescheuert“! Doch dann, wohl weil ich auch ein wenig zur Selbstreflexion neige, viel mir auf, dass ich in meiner Jugend auch nicht so völlig anders wahr. „Narzisstische Selbstüberschätzungen sind in der Adoleszenz nicht selten anzutreffen” heißt es bei Neurologen und Psychiater im Netz. Die Symptome sind eindeutig. Mein väterlicher Freund, der Pfarrer, hat das erkannt und mir den Stachel des Zweifels eingeimpft.
Doch wer macht das heute bei diesen jungen Leuten, die sich so schrecklich ernst nehmen. Gibt es jemand, der fähig ist, in ihnen Zweifel und Skepsis über ihr Denken und Tun zu säen? Von überall bekommen sie doch auf die Schulter geklopft, dass es zwar nicht ganz rechtens ist, wenn sie den Verkehr blockieren, aber sie täten es ja für einen guten Zweck, für das Richtige! Damit wird ihr Narzissmus nur noch größer.
Leider gibt es keine befriedigende Antwort auf meine Frage, wer fähig ist diesen Stachel des Zweifels zu verabreichen. Die Eltern, die Lehrer, die Medien? Wohl kaum. So wird es eben in nicht allzu großer Ferne die Realität tun müssen und wir alle werden für diesen Fehler, dass diesen jungen Leuten nicht rechtzeitig von Vertrauenspersonen widersprochen wurde, bitter bezahlen.
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