15. Juli 2024

Radiosender und ein Schrebergarten

Meine Eltern hatten in der DDR zusätzlich zum tausend Quadratmeter großen Hausgrundstück noch einen Schrebergarten in der Nähe, erst gepachtet, dann gekauft. Vor allem der Vater sah darin eine Möglichkeit, zusätzlich etwas Einkommen zu generieren. Aber das war es natürlich nicht nur, sondern seine Affinität zur Landwirtschaft, die sich ganz sicher in den frühen Nachkriegsjahren entwickelt hatte, als der Hunger herrschte und er als Helfer zum Bauern geschickt wurde um, wie er sich ausdrückte, dort etwas essen zu bekommen und somit seine Lebensmittelkarten der Mutter überlassen konnte.

Später, in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts, von dieser Zeit möchte ich jetzt hauptsächlich sprechen, gehörten uns also zwei Grundstücke, das zum Haus und ein Schrebergarten, der hatte etwa fünfhundert Quadratmeter, vielleicht auch etwas weniger, Erinnerungen täuschen manchmal. Auf beiden Plätzen wurde Gemüse und Früchte angebaut, die teilweise verkauft wurden, aber hauptsächlich der Eigenversorgung dienten. Dazu kamen die Hühner, Karnickel, manchmal Gänse oder Puten, auch ein Schaf hatten wir mal, die Tiere aber nur auf dem zum Wohnhaus gehörenden Grundstück.

Wenn ich nun heute in meinen Erinnerungen an unser Schrebergartengrundstück krame, passiert etwas ganz Merkwürdiges; ich habe den Signalton der Verkehrsmeldungen von Bayern Drei in den Ohren. Für die meisten Schrebergärtner diente ihr Stückchen Land mehr der Erholung, als dem Broterwerb oder der Ernährung und gerade an den Wochenenden spielte in jedem zweiten oder dritten Garten ein Radio zur Unterhaltung. Das nie so laut, dass es den Nachbarn zu sehr belästigt hätte; diesbezüglich nahm man Rücksicht aufeinander, doch gerade dieser markante Ton, mit dem die Verkehrsmeldungen auf Bayern Drei angekündigt worden, war doch deutlich auch über die Grundstücksgrenzen hinaus zu hören. Im südwestlichen Sachsen konnten wir diesen Sender ja in guter Qualität über UKW empfangen, die Sendestation Ochsenkopf war nur rund hundert Kilometer entfernt, wenngleich dieser Berg für uns in einer anderen Welt zu sein schien; die innerdeutsche Grenze mit Stacheldraht, Minenfelder, Selbstschussanlagen und Schießbefehl lag dazwischen.

So war das Radiohören im privaten oder halbprivaten Raum, dazu würde ich so eine Schrebergartenanlage zählen, nicht nur Unterhaltung, es war auch eine Möglichkeit mental dem real existierenden Sozialismus zu entfliehen und den Tönen aus dieser anderen Welt zu lauschen. Manchmal, so schien es mir, lebten die meisten Menschen emotional mehr im Westen als im Osten. Zumindest an den Wochenenden. Tagsüber Westradio, abends Westfernsehen. Das soll nicht heißen, dass sie dadurch bereits Oppositionelle waren oder ihr Medienkonsum so etwas wie Protest darstellen könnte, nein, es war nur eine mentale Flucht aus dem tristen Alltag.

Mich deprimierte allerdings dieser Verkehrsfunkton von Bayern Drei nicht, weil er Sehnsüchte nach dem Westen weckte, sondern weil ich glaubte, den Charakter meiner Mitmenschen als Mitläufer so zu erkennen. Sie konsumierten Westunterhaltung, um aus dem Alltag zu entfliehen. Real blieben sie angepasst, machten jeden sozialistischen Scheiß mit, waren Mitglied im FDGB oder der Deutsch-Sowjetischen-Freundschaft, manchmal sogar in der Partei, nur um im Alltag nicht anzuecken, und träumten sich dafür an den Wochenenden in den Westen. Ich begann meine Mitmenschen nach ihren Hörgewohnheiten zu unterscheiden, in Bayern-Drei-Hörer und solche, bei denen der RIAS lief; dieser Sender war auch über UKW empfangbar und mein Favorit.

Aber war es wirklich das bessere Programm, was beim RIAS gesendet wurde? Mir schien es so, es kamen mehr Informationen, die mich interessierten, aber hauptsächlich, so sehe ich es heute, war es das Image des Rundfunk Im Amerikanischen Sektor, mit dem ich sympathisierte. Er stand für die Freiheit, war klar antikommunistisch, ja, das wollte ich hören und mich nicht mit seichter Unterhaltung betäuben lassen.

Ich will hier den Radiomachern vom Bayerischen Rundfunk keine Vorwürfe machen, auch nicht ihr Programm kritisieren, sondern berichte nur von ihren Hören in der DDR der siebziger Jahre; und da war es eben so, dass die RIAS-Hörer, die mit kritischem Blick auf die reale sozialistische Gesellschaft waren, während die anderen Meister im Verdrängen der Realität genannt werden konnten. Das zumindest in meinem persönlichen Umfeld und dazu gehörte eben auch die Schrebergartenanlage, in der sich mein Vater so wohlfühlte.

Sollte ich noch ein Wort zum DDR-Rundfunk oder Fernsehen verlieren? Eigentlich schon, doch ich kannte in meinem privaten Umfeld niemanden, der das regelmäßig sah oder hörte, also muss ich dazu schweigen, kann nichts über deren Hörer oder Zuschauer sagen.

Für Westler mag es etwas sonderbar klingen, wenn davon berichtet wird, wie in der DDR ganz unbehindert Westmedien konsumiert werden konnten, wo doch dort Zensur und Diktatur herrschte. Nun, das trifft nur auf Radio und TV zu, alles, was mit Printmedien zu tun hatte, Bücher oder Zeitungen, wurde schon genauer beobachtet; Internet gab es noch nicht. Offensichtlich wussten die damaligen Machthaber in der Ostzone, wie ich die DDR manchmal immer noch nenne, dass von den meisten Westmedien keine Gefahr ausgeht. Die Menschen nutzten sie, um sich wegzuträumen, als Ablenkung von der Realität, nur wenige um aufzuwachen. Der Schrebergarten und Bayern Drei passten wirklich gut zusammen.

Sollen wir ein halbes Jahrhundert überspringen und einen Bogen in die Gegenwart schlagen? Ich versuche es mal. Geradezu inflationär hat die Anzahl der Fernsehsender und der Radiostationen zugenommen; zusätzlich bietet das Internet alle möglichen und unmöglichen Plattformen zur Unterhaltung, Information oder zur Kommunikation an. Sendestationen und ihre Reichweite spielen keine Rolle mehr, nur die Qualität des Netzes. Regionalität, früher zwangsläufig technisch bedingt, ist ebenso unwichtig; das Netz überwindet nicht nur physische Grenzen.

Vieles hat sich geändert, aber eines ist gleich geblieben: wie die Machthaber auf den Medienkonsum ihrer Bürger regieren. Keine Sorge haben die Mächtigen, wenn sich die Konsumenten wegträumen, während sie denjenigen Plattformen, die Informationen bieten und die Realität schildern, gerne den Saft abdrehen möchten.

Müsste ich heute eine Einteilung vornehmen, die Konsumenten, wie die Sendestationen oder Plattformen, in die Kategorien einordnen, wie ich sie vor fünfzig Jahren im Schrebergarten entwickelte, dann ergäbe sich etwa dieses Bild:

1) Der Öffentlich-Rechtliche-Rundfunk (ÖRR) ist wie der staatliche Rundfunk in der DDR, meist ideologisch und belehrend daherkommend, sogar die Unterhaltung oder Nachrichten mit Botschaften im Sinne des Systems gespickt.

2) Als nächstes Bayern Drei, hierzu können wir fast alle privaten Fernseh- und Radiostationen zählen, Plattformen wie Facebook, TikTok oder YouTube natürlich auch. Wenngleich sich da auch unabhängige Informationen finden lassen, so sind sie doch für die Hauptmasse der Konsumenten nur eine Möglichkeit, der Realität zu entkommen und wegzuträumen.

3) Und als Letztes wäre da noch die Kategorie RIAS. Hier würde ich Twitter oder X einordnen, jedenfalls seit Musk den Laden übernommen hat und für die Freiheit kämpft. Vielleicht sollte ich noch die vielen keinen unabhängigen Player erwähnen, von der Achse über Tichy, den Kontrafunk, den Sandwirt, Apollo, Nius, Novo und und und. Bitte nicht sauer sein, wenn ich nicht alle erwähne und nur den deutschsprachigen Raum diesbezüglich betrachte.

Diese Einordnung in drei Konsumentengruppen basiert nicht darauf, was die jeweiligen Sender oder Plattformen für eine Agenda haben, sondern was mit den Hörern, Zuschauern oder Lesern passiert, wenn sie diese konsumieren. Aber vielleicht passiert gar nichts mit denen, sondern die Konsumenten offenbaren nur ihre Natur, ihren Charakter, indem sie ihre Wahl treffen. Genau danach hatte ich meine Mitmenschen in der Schrebergartenanlage klassifiziert: in die Verblendeten, die Träumer und die kritisch Neugierigen. Bis heute halte ich an diesem Unterscheidungsprinzip fest, vielleicht noch ergänzt durch, als Unterkategorie der Träumer, die Wichtigtuer und Selbstdarsteller, die es früher natürlich auch schon gab, die aber nun, durch das Erscheinen der sogenannten Sozialen Medien, erkennbarer werden.

„Eine freie Stimme der freien Welt“, war einst der Slogen des RIAS. Ich wünsche mir heute viele solcher freien Stimmen, denn nur vor denen haben die Mächtigen Angst.


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6 Kommentare :

  1. Ich unterscheide das etwas anders. Die Vorlage geben Sie selbst. In allen(!) drei Faellen schreiben Sie von Konsumieren. Das ist m.E. der Punkt.

    Ich habe einmal gehoert, dass man sich in der AfD ueber manchen Neuzugang beschwert, der dort nicht arbeiten, sondern einfach sein Gemecker weiterfuehren will (mehr sage ich nicht als voellig Pateien-Ungeeigneter). In meiner Interpretation ist das die Form, die Konsumieren fuer Variante Drei annimmt. Solange man nur Aufregungsporn mitmacht (und das ist auch das alternative Medienspektrum zu grossen Teilen) geht es nicht weiter. Jeden Tag einen neuen Hammer oder Daempfer aufs atemlos gemachte Hirn, da passiert nichts an Entwicklung. Erst mit Ausgang auch aus dieser Unmuendigkeit, einmal so gesagt.

    Gruesse an Ihren Wohnort, wenn ich den richtig lokalisiere. Ist wohl ganz in der Naehe desjenigen meiner Frau, das waere Naehe Schoenbuch. Ich selbst komme aus der Gegend, in der man frueher gerade mal Radio Luxemburg auf Mittel- oder Kurzwelle hatte.

    Michael

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  2. Lieber Michael,

    Meckern, Motzen oder Dampf ablassen mag auf den ersten Blick nichts mit konstruktiver Arbeit zu tun haben; meist dürfte dies eine emotionale Reaktion auf etwas sein, was die eigene Befindlichkeit negativ beeinflusst hat. Etwa wie mein Ausruf „Verdammte Scheiße“ wenn ich mir das Schienbein irgendwo angestoßen habe. In einem solchen Augenblick sind reflektierte Äußerungen, die zu einer Lösung des misslichen Umstandes führen, nicht zu erwarten. Es ist aber eine Reaktion auf etwas, was mit mir geschehen ist.

    Insofern unterscheidet es sich von „Konsumieren“, dem ja immer eine (Aus)wahlentscheiung vorausgeht. Die Frage „Was will ich konsumieren?“ orientiert sich an den mir innewohnenden Bedürfnissen, Wünschen und Sehnsüchten, oft auch unterbewusst. Das, was ich konsumiere, erzählt also von mir, wie ich bin. Beim Meckern oder Motzen reagiere ich auf etwas, was mir geschah.

    Wenn ich selbst aktiv werden will, dann muss ich auf beides achten: Meine Sehnsucht nach Glück sowie meinen Wunsch nach Vermeidung von Leid.

    QQ

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    1. Corona begann vor ueber 4 Jahren, Merkels Umlegen des Schalters zur "Einwanderung" vor fast 10. Wenn ich seitdem nur jeden Tag Duschan Wegners Sammelseite aufmache und mir mein taegliches Pensum Aufregung hole, dann bleibt keine Zeit zur Reflektion und damit zu sinnvoll durch eigenes Denken abgestuetztes Handeln. Das meinte "Meckerei". Es ist wohlfeil und schiebt letztlich Aenderung nur hinaus (was aus meiner Sicht Ziel des Ganzen ist). Eigene erst einmal, weiteres mag folgen oder auch nicht. Das weiss man natuerlich nicht, Wege entstehen beim Gehen.

      Michael

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  3. "Schrebergarten gekauft..." Schon klar. ;)

    Lange her, da verblassen die Erinnerungen halt und die Wertungen werden leider offenbar auch beliebiger.

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  4. 27 Kommentare auf der Achse des Guten zu diesem auch dort erschienenen Artikel.
    https://www.achgut.com/artikel/radiosender_wahl_im_schrebergarten

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