Vor einigen Jahren musste ich in Kirchheim unter Teck, einer netten Kleinstadt am Fuße der Schwäbischen Alb, auf meine Frau warten die dort etwas zu tun hatte. Vielleicht war es ein Vorstellungsgespräch, ich weiß es nicht mehr. Jedenfalls war mir langweilig, doch eine Buchhandlung war in Nähe, und so ging ich da hinein, einfach um ein wenig in mir eher unbekannten Büchern zu blättern. Doch da wurde nichts draus, denn die überaus nette Buchhändlerin meinte mir helfen zu müssen und ich hatte auch Lust auf einen kleinen Smalltalk über Literatur. Es ist von meiner Laune abhängig, oder von sonst irgendwelchen unergründlichen Befindlichkeiten meinerseits, welche Literatur ich gerade bevorzuge. Diesen Gelüsten gehe ich dann immer nach, selten mache ich mir Gedanken darum warum nun gerade jetzt dieses oder jenes Buch. Von Sachbüchern oder dergleichen mal abgesehen.
Mir stand der Sinn nach Amis, soviel weiß ich noch. »Twisted River« hatte ich gerade gelesen, mein erstes Buch von John Irving und wahrscheinlich mein letztes von ihm. Hat mir überhaupt nicht gefallen, aber immerhin war es eine routiniert erzählte Geschichte. Ich lese keine Buchkritiken oder -rezensionen, vielleicht sollte ich das tun um einen besseren Zugang zu Irving zu bekommen, andererseits, warum sollte ich das tun, es genügt mir zu wissen, ob mir selbst etwas gefällt, andere haben eben einen anderen Geschmack. Sagt mir jemand: „Das musst du gelesen haben“, dann ist so gut wie sicher, dass ich das nicht tun werde. Erfahrungswerte.
Ich fragte die Buchhändlerin, ob sie was Neues von Paul Auster hätte. Von dem bin ich, gebe es zu, recht angetan. Hatte sie aber nicht, statt dessen empfahl sie mir Philip Roth, da macht man wohl nichts falsch, heutzutage. Die Buchhändlerin ließt sicher Kritiken und Rezensionen und kennt die Charts. Erstellt und geschrieben von Namenleckern, wie Canetti solche Leute einmal nannte. Also kaufte ich Roth's »Empörung« und verließ den Laden. Zum Buch will ich nichts weiter sagen, außer, ich habe es am Stück gelesen und fand, es ist eine routiniert erzählte Geschichte. Wer es mag, bitte sehr.
Wie gesagt, das ist jetzt einige Jahre her. An den Inhalt von Roth's »Empörung« kann ich mich nur noch bruchstückhaft erinnern, es hat mich eben nicht besonders mit gerissen. Dennoch muss ich in diesen Zeiten immer wieder daran denken, nur an den Titel. Denn wir haben Empörung allerorten. In der AfD über den rotgrün vesifften Staat, bei den Gegnern dieser Partei oder Bewegung über deren Weltsicht, nicht zu vergessen die dauerempörten Grünen, die so gut wie kein Thema ohne Empörung aufgreifen können. Man stelle sich einmal vor, insbesondere deren Frauen Claudia Roth oder Simone Peter müssten in den Talkrunden des TV auf den Gesichtsausdruck der Empörung verzichten, man würde sie nicht wieder erkennen.
Jetzt könnte man darüber lächeln, Empörungen des einfachen Bürgers oder die Empörungsinszenierungen der politischen Kaste als etwas betrachten, dass Menschen befällt die nicht Willens oder nicht Wollens sind, Dispute über Inhalte zu führen. Nur, ist es tatsächlich so einfach? Wissen die Empörten nicht so richtig was sie sie so wütend macht? Die Wutbürger nicht, die Pegidisten ebenfalls nicht. Aus dem Bauch kommt die Wut, das Grummeln dort ist sprichwörtlich, es kann also mit dem Kopf nicht viel zu tun haben.
Nichts könnte falscher sein. Gerade bei den Empörten, egal ob in Stuttgart oder Dresden, findet sich doch viel Detailwissen, geht man mit ihnen ins Gespräch. Selektives Wissen freilich, es liegt in der Natur Empörung, zuerst die Wut zu spüren, um dann eine Begründung dafür zu suchen.
Sloterdijk hat sich klug dazu geäußert, wie immer, bringt den Aspekt des Stolzes ins Spiel. Verletzter Stolz, die eigene Wertigkeit wurde nicht beachtet, Empörung über diese Herabsetzung ist die Folge. Finden sich diesbezüglich Vergleiche in Roth's Roman? Anzunehmen, es ist zu naheliegend. Erinnern kann ich mich daran nicht mehr, und da ich keine Rezensionen lese, oder das ganze Buch nicht noch mal lesen will, muss es hier als Vermutung stehen bleiben.
Kränkungen, verletzter Stolz, Empörung darüber, alles Beschreibungen von Empfindungen, die sich oft einer direkten Herleitung entziehen. Selten sind es Einzelereignisse die derartige Emotionen auslösen, sondern ein diffuses Konglomerat, dessen Einzelaspekte nie die Schwelle zur Empörung auslösen, sondern nur die unterschwellige Latenz füttern, aus der dann, sollte ein greif- und beschreibbarer Anlass hinzukommen, die Empörung erwächst. Der berühmte Tropfen der das Fass zum überlaufen bringt. Geht es schwäbischen Wutbürgern wirklich um einen Bahnhof, haben die Pegidamarschierer wirklich Angst vor dem Islam? Natürlich ist das der Fall, nur würden diese Einzelaspekte niemals eine derartige Reaktion auslösen, wie sie zu beobachten ist. Standarten haben sich gebildet, und sind die einmal da, ziehen sie die im Verborgenen schlummernden Kränkungen an die Öffentlichkeit.
Aus Latenz wurde Präsenz. Dies ist ein unumkehrbarer Vorgang. Ohne Empörung, oder vergleichbaren Emotionalitäten, lässt sich die Bildung von Standarten nicht erklären. Dass dabei nicht immer alles zueinander passt, was sich nun hinter der Standarte versammelt, liegt in der Natur der Latenz begründet. Da es nicht präsent war, konnte es sich auch nicht gegenseitig abschleifen, bekämpfen oder verbessern. Denken wir nur mal an Gründungszeit der Grünen, deren Standarte, gleichzeitig ihr Gründungsmythos, war die Antiatomkraftbewegung, die erst durch die zur Schau getragene Empörung ihre Kraft als Magnet entwickelte. Eine Standarte entstand, hinter der sich nun allerlei sich teils feindlich gesinnte Akteure versammelten. In einem Prozess aus Wissensaneignung, sowie den dazugehörigen Diskussionen darüber, wäre diese Partei nie entstanden. Es brauchte die Emotionalität der Empörung um eine sich selbst erhaltende Reaktion zu starten.
Kurz noch sollten wir auf den Begriff Latenz eingehen, denn sie ist, glauben wir dem Romanist Hans Ulrich Gumbrecht, etwas das da ist, ohne dass man es sehen oder greifen kann. Lediglich als »Stimmung« ist sie wahrnehmbar, entzieht sich aber weitestgehend jeder weiteren Beschreibung. Stimmung ist also das fast volle Fass, Empörung ist, wenn dieses über läuft. Nun wird für alle sichtbar: Hier ist was schief gegangen.
Letztlich war es bei Marcus Messner aus Newark in Roth's Roman auch so. Ein eigentlich banaler Anlass, im Vergleich zu dem was er vorher ertragen musste, löste seine Empörung aus. An so viel jedenfalls glaube ich mich jetzt doch noch erinnern zu können. Es hatte zur Folge, dass er seinen sicheren Platz am Collage verlassen musste, und in den Krieg nach Korea eingezogen wurde, was am Ende seinen Tod bedeutete.
So muss es nicht immer kommen, die Politik und die Geschichte kennt viele Beispiele erfolgreicher Empörungen. Die Grünen in den späten Siebzigern, oder die ostdeutschen Montagsmaschierer in den späten Achtzigern. Sie verließen ihre sicheren Plätze und trugen ihre Empörung in die Öffentlichkeit, wodurch sich die Standarten bilden konnten, hinter der sich dann weitere Empörte versammelten. Jeweils aus den unterschiedlichsten Gründen.
Fast nie aber ist der Grund den die Empörten nennen, warum sie nun demonstrieren und protestieren, ausreichend um dieses Verhalten und die gezeigten Emotionen zu erklären. Eine Fülle von Kränkungen mit verletzten Stolz muss voraus gegangen sein. Darüber sollten wir diskutieren, um herauszufinden, welche Tropfen das Fass füllten. Betrachten wir nur den letzten, der der das Fass zum überlaufen brachte, werden wir nicht verstehen was geschieht.
Ich werde jetzt Philip Roth's Roman »Empörung« doch noch mal lesen. Vielleicht ist er besser als ich noch vor ein paar Jahren dachte.
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