Nun haben wir das Dilemma: wohin gehört Deutschland? Die Westbindung, in der sich die Bundesrepublik in der Nachkriegszeit eingerichtet hatte und die mit der Eigenzuordnung zu den Projekten EU und NATO eine Selbstbeschreibung überflüssig gemacht hatte, wird nun hinterfragt. Die Risse gehen durch alle möglichen politischen Parteien. Ein bisschen haben diejenigen, die sich in der alten Bundesrepublik eingerichtet hatten, noch die Hoffnung, das Projekt europäische Einigung könnte sie von der Notwendigkeit befreien, nun endlich einmal eine Selbstbeschreibung vorzunehmen.
Was ist Deutschland, was ist ein Deutscher, eine Deutsche? Offene Münder hinterlässt diese Frage, vor Ratlosigkeit nach Luft schnappend und in Erklärungen aus Schulbüchern suchend, was für den Beobachter eigentlich Antwort genug ist. Von Freiheit ist dann schnell die Rede, wer in Geschichte ein wenig bewandert ist, greift auf das neunzehnte Jahrhundert zurück, die anderen aufs zwanzigste und verbreitete flache Stereotypen. Viel mehr wird man auch nicht von dem neuen Heimatministerium erwarten dürfen.
Was dabei völlig ausgeblendet wird, da immer nur in der Geschichte oder irgendwelchen Ideologien gekramt wird, ist die Mystik. „Das Christentum ist keine moralische, sondern eine mystische Religion“, meinte einst der katholische Religionsphilosoph Eugen Biser, dieser Spruch lässt sich gut auf alles quasi identitäre erweitern. „Deutschland lässt sich nicht mit moralischen Begriffen beschreiben, wie das die Verfassungs- und sonstige Patrioten gerne tun, sondern nur über die Mystik. Deutschland ist keine moralische Institution, kein Land ist das, auch wenn es die jeweiligen Vertreter des Staates oder sogenannter staatstragender Parteien gerne so darstellen.
Dabei ist der Mythos die Matrix des Weltbildes, so jedenfalls Norbert Bolz, oder auch sehr schön, in einer Rezension gefunden: „Über längere Perioden überlieferte Mythen haben sich in ihrem Kernbestand als Hintergrund eines kulturellen Koordinatensystems evolutionär bewährt. Sie sind nicht einfach durch die reine Ratio zu ersetzen.“
Was bedeutet dies aber für die Gegenwart und für Deutschland. Hier hatte sich ein neuer Mythos gebildet, mit der Westbindung als Sinnbild, das aber nun unter den sich ändernden weltpolitischen Gegebenheiten, immer mehr als nur pragmatische Lösung gesehen werden muss. Das tut weh, es tut immer weh, wenn sich herausstellt, dass die Fundamente des eigenen Heimes auf sandigen Boden gebaut sind.
Aus allen möglichen Richtungen kommen nun die Wasser welche das Haus unterspülen, von rechts, von links, von oben und unten, aus dem Osten, dem Westen, aus Nord und Süd. Alle Abwehrmaßnahmen werden nichts nützen, nur in der Selbstbesinnung, verbunden mit der Feststellung, dass die Nachkriegszeit eben nur eine Episode in der Geschichte der Deutschen und Deutschlands war, die keine dauerhaften neuen Mythen bilden konnte, wird ein Neubau möglich sein.
Ein solcher, soll er dauerhaft den weltpolitischen Wettern widerstehen können, muss als Erstes ein Ergebnis der Selbstbesinnung sein und darf sich nicht über Bündnisse, Moral oder Ideologien definieren. All dies ist natürlich wichtig, ergibt sich aber ganz von allein. Sich damit zu begnügen, heißt aber nichts anderes, als das neue Haus wiederum auf Sand zu bauen.
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