Eine meiner Töchter meinte kürzlich, nach dem sie fragte, ob ich denn auch in der Schule Präsentationen hätte machen müssen, dass meine Schulzeit besser gewesen sei. Sie hat nämlich immer Bammel davor, spricht zu schnell, verhaspelt sich, ist nervös und aufgeregt, wenn sie vor anderen Menschen sprechen soll. Nun ja, antworte ich ihr, wir mussten noch Gedichte auswendig lernen und sie dann vortragen, und das ist sicher auch nicht viel einfacher. Zumindest für diejenigen, die nicht gerne vor einer Gruppe sprechen. Aber in der Tat, mit einem hat sie recht, eigene Gedanken und Herleitungen mussten wir nicht vortragen. Es wurde ja auch nicht viel Wert auf eigene Schlussfolgerungen gelegt, sondern lediglich eine Wiederholung dessen was man uns einbläute.
Einmal allerdings, die Deutschlehrerin fragte danach, wie wir die Fabel von einer Raupe denn verstehen. Nein, nicht die mit dem Schmetterling, sondern eine andere. Den Autor habe ich vergessen und auch momentan nichts per Suchmaschine gefunden. Also aus dem Kopf:
»Eine Raupe sitzt auf einem Blatt hoch oben im Geäst des Baumes. Ein Wanderer machte Rast in seinem Schatten und erblickt das Tier. Voller Stauen fragt er: Ja, wie bist denn du nur so hoch gekommen? Gekrochen! antwortete die Raupe.«
Es war mutig von der Deutschlehrerin uns zu fragen, wie wir Schüler diese kleine Geschichte deuten. Meine Antwort war kurz: „wie Arschkriecher, die kommen auch so hoch“. Als ob das noch nicht genug wäre, nannte ich noch die Namen von zwei oder drei Klassenkameraden als Beispiel, damit ich auch richtig verstanden werde. Das wurde ich, von der Lehrerin zumindest, die diese Art der Schülerbefragung sofort abbrach.
Auch die genannten Klassenkameraden verstanden mich, doch Feiglinge und Arschkriecher wie sie waren, wahrscheinlich bis heute sind, trauten sie sich nicht, mit mir auf dem Pausenhof eine Prügelei anzufangen. Sie gingen mir nur aus dem Weg und versuchten eben mittels Intrigen und Denunziationen weiter zu kommen. Dabei gehörte ich zu den Kleinen in der Klasse und war eher schmächtig. Egal, jedenfalls lernte ich so, dass Intriganten und Denunzianten immer die direkte Konfrontation scheuen. Warum muss ich hier und jetzt nur an den Böhmermann denken, diese Raupe, aus der sicher nie ein Schmetterling wird?
Aber diese Geschichte wollte ich eigentlich gar nicht erzählen, sie hat sich nur vorlaut hineingedrängt. Ich habe sie machen lassen, wohl wegen meiner Sympathie dem Vorlauten insgesamt gegenüber, es wägt nicht ab, bedenkt nicht die Folgen, es bricht einfach heraus. Ja, das ist es, was ich am Vorlauten liebe. Es ist wie der Aufschrei: Au, Aua, wenn es eben irgendwo weh tut. Später, wenn der Schmerz vorbei ist, kann man ja immer noch beschreiben, was weh tat, mit ausgewogenen Worten.
Eigene Gedanken und Herleitungen waren nicht gewünscht in der polytechnischen Oberschule der DDR, eher sollte man den vorgezogenen ideologischen und weltanschaulichen Linien folgen. Insofern hoffe ich, als sich meine Tochter etwas aussöhnt mit ihrer Präsentation, auch wenn sie reichlich nervös ist. Einfacher wäre es sicher, nur auswendig gelerntes vorzutragen, zumindest vordergründig. Ein Problem entsteht ja erst, beim auswendig gelernten Vortrag eines Gedichtes, wenn man so gar nicht mit dem einverstanden ist, was man denn sagen soll.
»Die Schlesischen Weber« war bei mir so ein Fall und gleichzeitig das einzige Mal, an dem ich für meinen Protest Unterstützung aus dem Elternhaus bekam. Ich weigerte mich schlicht, dieses Gedicht von Heinrich Heine vorzutragen, und zwar wegen dieses Satzes: „Ein Fluch dem Gotte, zu dem wir gebeten“. Gott verfluchen, nein, niemals – ich war sehr religiös in Kinder- und Jugendtagen. Es war mir, auch meiner Mutter, völlig egal, wenn es deswegen eine schlechte Note in Deutsch gibt. Was zählt das schon, im Verhältnis zum Seelenheil! Mit stolz geschwellter Brust saß ich im Unterricht, vor allem, da ich auch noch beim Versuch zu protestieren, dieses eine Mal, mir der Unterstützung meiner Eltern gewiss war.
Leider bekam ich die Gelegenheit zu diesem Protest nicht, sehnsüchtig wartete ich darauf, zum Vortrag des Gedichtes vor die Klasse gerufen zu werden. Nur, es geschah nicht. Wahrscheinlich ahnte die Deutschlehrerin, was passieren würde, wenn sie mich aufruft, und wollte entweder eine Konfrontation vermeiden, oder mich vor meinen Worten schützen. Heute vermute ich Letzteres, damals Ersteres. Ich hatte ja im Vorfeld schon lauthals verkündet, dass ich diese Strophe des Gedichtes nicht aufsagen werde.
„Die Rache Gottes an den Atheisten besteht darin, dass er sie mit Blindheit schlägt für die politische Macht der Religion“, meinte kürzlich Norbert Bolz per Twitter und dieser Spruch war es auch, der mich an die Sache mit dem Gedicht von Heine erinnerte. Die politische Macht der Religion zeigte sich selbst in einem totalitären System wie der DDR, die trotz aller Methoden die einer Diktatur zur Verfügung stehen, es nicht schaffte, die Religion zu unterwerfen oder beseitigen.
Herzlich lachen musste ich deswegen auch über die Meldung, dass nun von den Unionsfraktionschefs eine »Wertekunde« für Flüchtlingskinder gefordert wird. Oder wenn beklagt wurde, dass Moslems ihre Werte über denen der hiesigen Gesellschaft stellen. Daran ist überhaupt nichts besonders, ich habe es ja am eigenen Leib, an der eigenen Seele erfahren, wie das ist. Es ist eine reine Selbstverständlichkeit, dass religiöse Werte über humanistischen Werten stehen, jeder der Religion an der eigenen Seele spürt, weiß das, das ist nicht nur bei den Muslimen so, sondern generell. Dabei geht es nicht darum, ob ich das nun gut oder schlecht finde, ich schaue nur hin, was ist.
Es war ein längeres Gespräch mit meiner Tochter, schnell kamen wir weg von ihrem Problem mit der Präsentation und gelangten dahin, wo ihr wirklich der Schuh drückte. Sie möchte nämlich gerne vom Religions- in den Ethikunterricht wechseln und schien doch irgendwie zu hoffen, dass ich ihr das verbiete. Das tue ich keinesfalls, was ich auch sagte. „Aber der Ethiklehrer ist so ein Vollgrüner“ meinte sie und dass sie dann seine Aussagen ständig mit denen von mir vergleichen würde. Nein, sagte sie, in diesen Zwiespalt möchte sie sich nicht begeben und lieber doch bei der Religion bleiben. „Ich kann dir nicht helfen, kann dir nicht diese Entscheidung abnehmen“, sage ich, um anzufügen: „aber egal welche Entscheidung du triffst, ich stehe hinter dir und trage sie mit.“ Heute kann ich so sprechen, die Religion hat keine Macht mehr über mich, jedenfalls nicht, wenn sie mir mittels Ver- oder Geboten gegenüber tritt, dann bin ich ihr Feind. Fürs Spirituelle bin ich schon noch empfänglich. Auch Heinrich Heines »Die Schlesischen Weber« kann ich heute aufsagen, würde man allerdings mich dazu zwingen sie aufzusagen – dann niemals.
Kommentar veröffentlichen