Die Demonstration am 9. Mai in Stuttgart gegen die Beschränkungen des Lebens, dem Shutdown, der Corona-Verordnungen, also alle diese Maßnahmen von denen die Regierenden und ein großer Teil der Bevölkerung annehmen, sie seien notwendig zur Bekämpfung der CoronaKrise, begann eigentlich schon auf dem Hinweg in der S-Bahn. Ein junger Mann, mit Rucksack und einigen PaperbackAusgaben vom Grundgesetz in der Hand, ging durch den Zug, verteilte kostenlos unsere Verfassung. Einige steckte er in die Ablage, dorthin wo sonst die Werbung von der SSB drin ist, manche wurden ihm direkt aus der Hand genommen. So auch von einem an die zwei Meter großen Hünen und geschätzt mit ebensolchen Bauchumfang. OK, das ist übertrieben, so dick war er dann doch nicht. Er sah eben recht beleibt aus, eine imposante Erscheinung; in seinen kurzen Hosen und Sandalen wirkte er allerdings so, als wäre er gerade aus einer Asi-Penner-Kneipe gekommen. „Oh ja, gib mir eins her, ich habe da schon lange nicht mehr reingeschaut,“ sagte er viel zu laut zu dem jungen Mann, der diese Büchlein verteilte, wollte damit allerdings ganz sicher nur auf sich aufmerksam machen und allen zu verstehen geben: „Schaut her, ich trage keine Maske, ihr Feiglinge!“
„Das geht ja gut los“, dachte ich mir, „wenn die Mehrheit der Demonstranten heute so drauf ist, dann bin ich bald wieder zu Hause“. Doch schnell wurde mir mein Hochmut bewusst und ich schämte mich geradezu. Hat dieser Mann kein Recht seine Meinung kund zu tun? Er kann es nun mal nur mit den Mitteln tun, die ihm zur Verfügung stehen. Er zeigte seine Empörung, die war nicht gespielt oder aufgesetzt. Ich musste an die Diskursethik nach Habermas denken oder an die neuerdings so beliebten Bürgerforen, die als Legitimationen für politische Entscheidungen herhalten sollen, bei denen allerdings immer die artikulationsstarken und zeitreichen im Vorteil sind. Wie sollte sich der Hüne aus der SBahn da einbringen können? Das geht natürlich nicht, weshalb eben diese demokratietheoretischen Ansätze in meinen Augen sowieso hanebüchen, vielleicht sogar gefährlich sind.
Aber meine Befürchtungen sollten sich nicht bewahrheiten. Zwar sah ich im weiteren Verlauf des Nachmittages noch ein paar andere komische Gestalten, meist aber aus der esoterischen Ecke, oder so was wie selbsternannte religiöse Prediger, die mit Botschaften wie »Die Liebe rettet die Welt« die anderen anwesenden eher belustigten, als aufregten. Wahrscheinlich trifft man diese Leute auch auf jedem größeren Volksfest, kommen irgendwo Massen zusammen, so zieht dies Prediger jeder Couleur an, wie das Licht die Motten. Aber, wie gesagt, es waren nur sehr vereinzelte die so waren, man musste geradezu nach ihnen suchen.
Ein paar hundert Meter Fußweg sind es nur, vom Bahnhof Bad Cannstatt bis zum Wasen, diesem Stuttgarter Festplatz, der üblicherweise in Verbindung mit Fußball genannt wird, oder eben den über die Region hinaus bekannten Volksfesten im Frühjahr und im Herbst. Nur dieses Jahr nicht, die Volksfeste sind wegen Corona abgesagt und der VfB muss, wenn überhaupt, ohne Publikum oder Fans spielen. Von diesem kurzen Weg gibt es nicht viel zu berichten, an einer Ecke standen allerdings ein paar schwarz gekleidete Typen rum, schwarze Schutzmasken trugen die auch. Ob sie zur Antifa gehörten, was ich zuerst vermutete, war aber nicht klar. Später auf der Veranstaltung selbst, wie auf dem Rückweg, habe ich keine derartig gekleidete Personen mehr gesehen. Es blieb friedlich, den ganzen Tag, kein Krawall.
Als wir am Versammlungsort ankamen, ermahnte gerade der Organisator der Veranstaltung, Michael Ballweg, die Demonstranten die Abstandsregeln einzuhalten, den Anweisungen der Polizei zu folgen, die wären schließlich da um diese Versammlung zu schützen, gefolgt von noch ein paar weiteren Schmeicheleien. Ich hörte nur mit einem halben Ohr hin. Reden, die auf einer Versammlung wie dieser gehalten werden, erwecken bei mir immer den Eindruck, als wären sie reine Bettelei nach Beifall. Noch nie habe ich bei so einer Rede was gehört, was ich nicht schon vorher wusste, oder wenigstens hätte wissen können.
Weiter ging es im allgemeinen Blablabla. Man distanziere sich von den „Rechten“ wie von den weit „Linken“ und so weiter. Dann allerdings machte er ein interessantes Wortspiel, sie bräuchten für ihren Protest nur zwei »F«, Freiheit und noch was anderes, ich habe es vergessen. Wie gesagt, ich bin ja dort nicht hingegangen, um mir Reden anzuhören, sondern um mir die Menschen anzuschauen, die sich versammelt haben. Aber nochmal merkte ich auf, als er seine zwei »F« mit den dreien von »Fridays for Future« verglich, um dann aber gleich im nächsten Satz die »FFF-Anhänger« dazu aufzufordern, sich seiner Bewegung anzuschließen. „Was ist das nur für ein Schleimer“, dachte ich mir. Wohl die meisten Demonstranten ebenfalls, denn der Beifall auf diese Äußerung hielt sich sehr in Grenzen.
Die Reaktionen des Publikums zu erleben, ja dafür war ich hergekommen, zu erkennen wie die Masse der Demonstranten tickt. Fiel das Wort »Merkel«, egal von welchem Redner, war sofort ein großes Buhkonzert zu vernehmen. Kein anderer Name, auch »Seehofer« nicht, kam an das Verachtungslevel heran. Auch hier an diesem Samstag, an diesem Ort, wurde klar: wenn es eine Person in diesem Land gibt, die sinnbildlich für die Spaltung in diesem Deutschland steht, dann ist das die Kanzlerin Merkel. Sie und ihre Worte und Taten werden auf der einen Seite so sehr verehrt, wie sie auf der anderen abgelehnt, gar verachtet werden. Dazwischen scheint es nichts zu geben, höchstens Opportunisten, die sich niemals ernsthaft auf die eine oder andere Seite schlagen und lediglich ihr Fähnlein in den Wind hängen.
Bleiben wir noch kurz beim Thema Opportunismus. Im Grunde bin ich überzeugt, dass Opportunisten die Mehrheit der Bevölkerung darstellen. Das ist gar nicht abwertend gemeint, es sind eben Menschen, die ihr Leben leben möchten und dabei die politischen, wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Machtsituationen akzeptieren um daraus das Beste für sich selbst und ihre Familien heraus zu holen. Sie sind nicht so empfänglich für die großen Ideen der Idealisten, sie machen nur ihre Interessen kompatibel mit dem vorherrschenden Meinungsklima, ohne allerdings diesem in allen Aspekten zu folgen. Ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche sind ihnen meist wichtiger, genauso wie die Menschen in ihrer Nähe, die Familie wahrscheinlich zuallererst, dann das soziale Umfeld, der Job, die Nachbarschaft.
Oft habe ich diese Menschen gescholten, ja in der DDR gar verachtet. Heute weiß ich, sie sind für eine Gesellschaft so was wie das Wasser in einem alkoholischen Getränk. Wie dieses den Alkohol verdünnt, ihn dadurch erst genießbar macht, so wirken die Opportunisten auf die Gesellschaft. Die großen Ideen, die großen Aufgaben, sei es Klimawandel oder die Bekämpfung einer Pandemie, es ist eigentlich egal, um was es geht, verlieren durch die Opportunisten ihre Giftigkeit und Gefährlichkeit, solange man ihnen, den Opportunisten, die Möglichkeit gibt und die Rahmenbedingungen zulässt, dass sie weiter ihre eigenen Interessen verfolgen können. Purer Alkohol ist ungenießbar, pure Ideologie ebenfalls, genauso wie jeder Totalitarismus.
Menschen gehen auf die Straße, versammeln sich zu Tausenden, protestieren gegen die Übergriffigkeit des Staates, fordern Freiheit und Rechtsstaat, halten das Grundgesetz hoch und ich bezeichne diese als, nun ja, im Grunde als Opportunisten! Ich war selbst erschrocken von meiner Diagnose, von meinen Beobachtungen und Assoziationen, doch nur deswegen, weil das Wort Opportunist einen so negativen Beigeschmack hat und diesen Menschen in der Regel Prinzipienlosigkeit und Orientierung am eigenen Vorteil unterstellt. Doch es ist ein Déjà-vu im Kopf, was sich so deutlich bemerkbar macht. Ich habe das alles schon mal erlebt: Ganz normale Durchschnittsbürger, die nun auf die Straße gehen und protestieren. Freilich bin ich nicht der erste, der diese Ähnlichkeit mit den Montagsdemonstranten gegen Ende der DDR sieht, was aber selten nachgefragt wird, warum es diese Verwandlung vom braven Bürger zum Protestierenden gegeben hat?
1982, während der Zeit meines Ausreiseantrages, gingen mir viele meiner Nachbarn oder Mitbürger aus dem Weg, sie hatten sich in ihrer Umgebung, der real existierenden DDR eingerichtet, planten ihr Leben, mit den Möglichkeiten, die ihnen die Realität bot, mit mir wollten sie besser nicht zu sehr in Verbindung gebracht werden. Später, als ich einige von ihnen 1989/90 traf und mich mit ihnen unterhielt, erzählten sie mir mit Stolz, was sie auf den Montagsdemos, vor allem in Plauen (Vogtland), erlebt hatten. Sie hatten sich verwandelt, aus Opportunisten waren Oppositionelle geworden.
Vergleiche hinken immer, wahrscheinlich auch meiner hier, aber sie können doch grundsätzliche Mechanismen verdeutlichen. Denn die Menschen, die ich nun hier in Stuttgart traf oder beobachtete, machten auf mich den Eindruck, dass sie im Grunde bis vor kurzer Zeit wenig bis gar nicht politisiert waren. Sie hatten sich eingerichtet in ihrem Leben, ihre eigenen Perspektiven für die Zukunft entwickelt, immer ganz eng den Möglichkeiten gebunden, die ihnen direkt zur Verfügung standen. Man kann es auch Realismus in der Lebenswirklichkeit nennen, statt Opportunismus. Es waren Leute, wie ich sie im Supermarkt beim Einkaufen treffe, beim Elternabend, wie die Nachbarn, Kollegen, einfach ganz normale Leute, manche vielleicht mit Hochschulabschluss, mindestens aber nicht ungebildet, nicht arm, nicht reich, eben solche, die man als Mittelschicht bezeichnet. Sie haben sich ihren Wohlstand selbst erarbeitet und stehen mit beiden Beinen mitten im Leben. So einen wie den Hünen in der S-Bahn traf ich dort auf dem Versammlungsort nicht mehr. Was natürlich nicht heißt, dass er nicht auch hier war, es waren einfach viel zu viele Menschen dort und wenn der eine oder andere Prolet dabei war, dann ist er in der Masse untergegangen.
Wir überquerten die Mercedesstraße und waren am Wasen, diesem Festplatz auf dem in anderen Jahren Volksfeste und andere Massenveranstaltungen stattfinden, und hatten schon da einen guten Blick auf die Demonstration. Die Straße liegt etwas höher, eine bewachsene Böschung trennt sie vom Platz. Dort, auf dieser Böschung, hatten sich ebenfalls einige Menschen eingefunden, manche mit einer kleinen Matte, so eine wie sie gerne mit an den See genommen wird, um ganz entspannt das zu betrachten, was in einiger Entfernung geschah. Der Veranstalter der Demo hatte für eine ordentliche Soundanlage gesorgt, was auf der Bühne gesagt oder vorgetragen wurde, war also auch hier gut verständlich,
Anfangs war mir nicht ganz klar, ob diese Zuschauer auf der Böschung zu den Demonstranten gehörten, oder ob sie eher nur Neugierige waren, die sich das Spektakel zur Unterhaltung anschauten. Zustimmendes Nicken von ihnen, manchmal zurückhaltendes Beklatschen dessen, was von Bühne herüberschallte, zeigten dann klar, sie waren mindestens Sympathisanten. Eine Weile beobachte ich sie und immer deutlicher glaubte ich meine ehemaligen Nachbarn aus der DDR zu erkennen, die sich verwandelt hatten, weil eine Situation eingetreten war, an die sie sich einfach nicht mehr anpassen konnten. Freilich trifft diese Beschreibung nicht auf alle Demonstranten zu, doch auf die Mehrheit schon, in unterschiedlichen Abstufungen.
Lange blieben wir nicht an der Böschung und gingen dann weiter zum eigentlichen Versammlungsplatz. Ein Flugblatt bekamen wir am Zugang gereicht, mit den Forderungen der Initiative »Querdenken711«, hauptsächlich mit Berufung auf das Grundgesetz, wurde die Aufhebung der Einschränkungen der Freiheit gefordert, plus der Forderung nach Neuwahlen im Herbst dieses Jahres. Auch auf den selbst gemalten Plakaten, eigentlich meist nur Kartons und erkennbar von denen selbst beschrieben, die sie trugen, waren am häufigsten die Worte Freiheit und Grundgesetz zu lesen. Keinesfalls, das war klar erkennbar, hatte hier eine Partei oder eine sonstige gut organisierte Organisation die Hände im Spiel, dazu sah alles viel zu selbst gebastelt aus.
Auf dem Nachhauseweg fragte ich mich dann, was wohl alles zusammengekommen sein mag, dass nun ganz normale Durchschnittsbürger auf die Straße gehen? Im Prinzip frage ich mich das immer noch. So was kommt nicht plötzlich, auch nicht durch die Beschränkungen ihrer Rechte, aller dieser Einschränkungen ihrer gewohnten Lebenswirklichkeit, nun im Zuge der Corona-Verordnungen. Der Unmut über den anmaßenden Staat ist schon länger vorhanden, allerdings individuell unterschiedlich und ist jeweils im persönlichen Leben zu suchen. Beim Selbständigen der überbordene Bürokratismus, bei anderen die ständigen Drangsalierungen der Autofahrer – von der Verkehrsführung bis zum Dieselfahrverbot – die eigenmächtigen Entscheidungen der Kanzlerin in den letzten Jahren spielten sicher auch eine Rolle. Stichwort 2015. Insgesamt ist es Melange von so empfundenen Einschränkungen, Drangsalierungen und Ungerechtigkeiten, die das Gefühl beim braven Bürger verstärkten, dass seine Freiheit, seine Wünsche und Hoffnungen für die Zukunft, aber auch sein Bestreben um »zurechtkommen in der Gegenwart«, keine Berücksichtigung in der Politik mehr findet.
„Wir sind das Volk“, diesen Spruch habe ich nirgends vernommen, aber irgendwie war er doch allgegenwärtig.
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Dieser Text ist mit einem Vorwort ebenfalls bei AchGut erschienen: hier.
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