6. Mai 2020

Die politischen Langzeiteffekte der Corona-Krise

Im Ta­ges­spie­gel wird ei­ne Stu­die vor­ge­stellt, nach der die ›Spa­ni­sche Grip­pe‹ (1918-20) welt­wei­te po­li­ti­sche Aus­wir­kun­gen ge­habt hät­te. So wird bei­spiels­wei­se der Auf­stieg der Na­tio­nal­so­zia­lis­ten da­mit be­grün­det. Dort wo es be­son­ders vie­le To­des­fäl­le ge­ge­ben hät­te, wä­re dann – ei­ni­ge Jah­re spä­ter – auch der Wäh­ler­an­teil für die Na­zis am höchs­ten ge­we­sen.

Si­cher ist das ein we­nig an den Haa­ren her­bei­ge­zo­gen ist, viel­leicht liegt es auch an ei­ner mög­li­cher­wei­se ver­kürz­ten Dar­stel­lung im Ta­ges­spie­gel, doch ein Satz ließ mich auf­hor­chen, dort wird er­wähnt, dass die­ser Push­ef­fekt für an­de­re po­li­ti­sche Ex­tre­mis­ten, wie die Kom­mu­nis­ten, nicht exis­tier­te. War­um nicht, wird nicht er­wähnt, aber die Ant­wort er­gibt sich ja von selbst, Kom­mu­nis­ten sind ih­rem Selbst­ver­ständ­nis nach In­ter­na­tio­na­lis­ten, was in Zei­ten der Be­dro­hung durch ei­ne Epi­de­mie nicht be­son­ders at­trak­tiv ist. Wird die­se re­al, ist eher die Rück­be­sin­nung und der Schutz des Ei­ge­nen wich­tig, zu­min­dest wich­ti­ger als Uto­pi­en.

Mir ist die­se ver­ein­fach­te Dar­stel­lung, dass die Spa­ni­sche Grip­pe den Auf­stieg Hit­lers be­güns­tig­te, so­wie­so zu rei­ße­risch, zu kom­plex war die Si­tua­ti­on in der Wei­ma­rer Re­pu­blik. Den­noch ist die Be­ob­ach­tung nicht neu, dass Epi­de­mi­en po­li­ti­sche Lang­zei­tef­fek­te ha­ben. Mi­chel Fou­cault ver­tritt gar die The­se, „dass der mo­der­ne Na­tio­nal­staat von Epi­de­mi­en in­di­rekt pro­fi­tier­te. Im 19. Jahr­hun­dert wur­de die Sa­nie­rung von »Seu­chen­her­den« mit ent­spre­chen­der Kon­trol­le, Über­wa­chung und Ahn­dung ein wich­ti­ges In­stru­ment und ei­ne Le­gi­ti­ma­ti­on der jun­gen Na­tio­nal­staa­ten“.

All das ist na­tür­lich lan­ge be­kannt und wur­de viel be­spro­chen. Die span­nen­de Fra­ge ist: Was pas­siert jetzt in den Zei­ten von Co­ro­na, wel­che lang­fris­ti­gen po­li­ti­schen und ge­sell­schaft­li­chen Ver­än­de­run­gen wer­den sich als Er­geb­nis die­ser Pan­de­mie er­ge­ben?

Na­tür­lich ver­sucht ei­ne In­sti­tu­ti­on wie die EU nun in die In­itia­ti­ve zu ge­hen, will sich als Ak­teur zei­gen, um ihr Be­dürf­nis nach Le­gi­ti­ma­ti­on durch das Volk zu be­frie­di­gen. Nur hat das ir­gend­wie nicht ge­klappt, sämt­li­che Kon­trol­le, Über­wa­chung und Ahn­dung, eben al­les was bei der Be­kämp­fung ei­ner Epi­de­mie wich­tig er­scheint, ver­blieb bei den Na­tio­nal­staa­ten. We­nigs­tens mit Geld­schei­nen konn­ten die von der EU we­deln, so wie sie es im­mer tun, und gro­ßzü­gi­ge Hil­fe ver­spre­chen. Ob dies noch lan­ge so geht, nach­dem das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt in fis­ka­li­scher Hin­sicht nun ein deut­li­ches Ur­teil ge­gen sol­ches Ge­ba­ren der EU­In­sti­tu­tio­nen aus­ge­spro­chen hat, muss be­zwei­felt wer­den. Un­term Strich könn­te die EU nach En­de der Pan­de­mie als der gro­ße Ver­lie­rer da­ste­hen. Ob sie ihr nächs­tes gro­ßes Geld(um)ver­tei­lungs­pro­jekt, ih­ren »Green Deal«, wie ge­plant durch­be­kom­men wer­den, er­scheint aus heu­ti­ger Sicht eher frag­lich. Zu­mal al­les was sich mit dem po­li­ti­schen Be­griff Grün schmückt, auf ein­mal selt­sam un­at­trak­tiv er­scheint.

Da­mit sind wir nun mit­ten in der Fra­ge: Wel­che po­li­ti­schen Lang­zei­tef­fek­te wer­den sich aus der Co­ro­na­Kri­se er­ge­ben? Glo­ria Gey­er zieht im oben er­wähn­ten Ta­ges­spie­gel­Ar­ti­kel die ganz gro­ße Fra­ge her­aus: „Wel­che lang­fris­ti­gen Fol­gen hat das Co­ro­na­vi­rus für die po­li­ti­sche Welt­ord­nung? Die­se Fra­ge be­schäf­tigt der­zeit vie­le Men­schen und die Wis­sen­schaft welt­weit.“ Ich fin­de die­se Fra­ge le­gi­tim und span­nend, wer­de mich aber nicht an ei­ne Be­ant­wor­tung trau­en. Mei­ne Er­kennt­nis­se be­ru­hen meist eher auf der Be­ob­ach­tung der Men­schen in mei­ner Nä­he, was glo­bal pas­siert, müs­sen an­de­re be­ur­tei­len und be­schrei­ben.

Al­so blei­be ich bei mei­ner Um­ge­bung und be­ob­ach­te die­se, wel­che Be­find­lich­keits­ver­än­de­run­gen bei mei­nen Mit­men­schen er­kenn­bar wer­den. Und hier stellt sich schon jetzt her­aus, dass die­se auf zwei ver­schie­de­nen Ebe­nen ge­sche­hen, ein­mal als Re­ak­ti­on auf die Be­dro­hung durch das Vi­rus selbst, und dann, als Re­ak­ti­on auf die po­li­ti­schen und ho­heit­li­chen Ent­schei­dun­gen zur Be­kämp­fung des Vi­rus.

Am An­fang war ei­ne Ver­un­si­che­rung durch das Vi­rus selbst. Wird es mich tref­fen, wie kann ich mich schüt­zen, wel­cher mei­ner Mit­men­schen könn­te nun ei­ne Be­dro­hung für mich sein? Das frag­ten sich die meis­ten Men­schen, als die ers­ten Nach­rich­ten aus Chi­na ein­tra­fen und die­se Ver­un­si­che­rung stei­ger­te sich noch wei­ter, als wei­te­re Schre­ckens­mel­dun­gen, nun auch aus Eu­ro­pa, die Nach­rich­ten do­mi­nier­ten. Doch das war al­les nur Ima­gi­na­ti­on, ei­ne rea­le Be­dro­hung ver­spür­te kaum ei­ner. Par­tys gin­gen wei­ter, Mas­sen­ver­an­stal­tun­gen eben­so. Den­noch mach­te sich, mit je­der wei­te­ren Mel­dung in den Nach­rich­ten, die Ver­un­si­che­rung im­mer mehr breit, so­dass bald deut­li­che Ru­fe nach po­li­ti­schen Ent­schei­dun­gen laut wur­den. die Ver­un­si­che­rung im­mer mehr breit, so­dass bald deut­li­che Ru­fe nach po­li­ti­schen Ent­schei­dun­gen laut wur­den.

Als die Po­li­tik nun die­sen Ru­fen ent­sprach und zu­erst Er­klä­run­gen ab­gab, war­um Mas­ken nicht schüt­zen und Grenz­schlie­ßun­gen eben­falls nicht, be­gann der Ei­er­tanz der Ver­un­si­che­rung erst rich­tig. Die­se Aus­sa­gen wur­den näm­lich recht bald ein­kas­siert und das Ge­gen­teil be­haup­tet, ver­bun­den nun mit po­li­ti­schen Ent­schei­dun­gen die schlie­ß­lich in den »Shut­down« gip­fel­ten. Ei­ne kur­ze trü­ge­ri­sche Be­ru­hi­gung trat ein, aber nur so­lan­ge, bis die Be­find­lich­keit der Ver­un­si­che­rung – nun we­gen ganz rea­ler Be­dro­hun­gen – auf das ei­ge­ne Da­sein über­griff. Die Angst vor Wohl­stand­ver­lust, Kurz­ar­beit, Ar­beits­lo­sig­keit und mehr, ver­stärk­te die Ver­un­si­che­rung. Aus der ima­gi­nä­ren Be­dro­hung war ei­ne rea­le ge­wor­den. All die­se Ver­ord­nun­gen, die das öf­fent­li­che und vor al­lem das wirt­schaft­li­che Le­ben dann stark ein­schränk­ten, wur­den zu­neh­mend als Ge­fahr für den ei­ge­nen Wohl­stand, ja gar die Exis­tenz, emp­fun­den. Dies trifft viel­leicht nicht auf die Mehr­heit zu, die al­le die­se Ein­schrän­kun­gen als we­ni­ger be­droh­lich er­ach­ten als das Vi­rus selbst, doch ei­ne zu­neh­men­de Min­der­heit emp­fin­det so, für die­se Men­schen ist es jetzt die Po­li­tik, von der die wirk­li­che Ge­fahr aus­geht.


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Ers­te De­mons­tra­tio­nen ge­gen den »Shut­down« for­mie­ren sich, letz­ten Sams­tag ka­men in Stutt­gart auf dem Cann­stat­ter Wa­sen, dort wo sonst die Volks­fes­te im Früh­jahr und Herbst statt­fin­den, rund 5000 De­mons­tran­ten zu­sam­men. Der Schloss­platz, auf dem sie ei­ne Wo­che vor­her de­mons­trier­ten, war zu klein ge­wor­den. Im Netz for­mie­ren sie sich un­ter dem Schlag­wort »Wi­der­stan­d2020 und be­grei­fen sich gar schon als Par­tei.

Ist das nun ei­ne Ein­tags­flie­ge, ei­ne kurz­fris­ti­ge Auf­re­gung, die sich bald wie­der legt, oder ha­ben wir es hier be­reits mit dem Be­ginn ei­nes po­li­ti­schen Lang­zei­tef­fekts zu tun, um auf die Ein­gangs­fra­ge zu­rück­zu­kom­men. Ich kann es mo­men­tan noch nicht ein­schät­zen, mei­ne und die Be­find­lich­kei­ten mei­ner Mit­men­schen ha­ben sich ge­än­dert, die Be­grif­fe Frei­heit und Selbst­be­stim­mung be­kom­men ei­nen hö­he­ren Stel­len­wert, im ide­el­len Be­reich ge­nau­so wie in der Le­bens­pra­xis, da mehr mit ma­te­ri­el­len Ängs­ten und Wün­schen ver­bun­den. Wenn bei­des zu­sam­men­kommt, das Ide­el­le und das Ma­te­ri­el­le, dann ist die Wahr­schein­lich­keit recht groß, wenn die Um­stän­de es auch noch be­güns­ti­gen, dass hier ei­ne po­li­tisch re­le­van­te Be­we­gung ent­steht.

Die­se Ein­schät­zung gilt aber nur mit Vor­be­halt, ich muss mir erst selbst ein Bild da­von ma­chen. Al­so wer­de ich nächs­ten Sams­tag, so wie­der ei­ne De­mo in Stutt­gart ist, mal hin­ge­hen und die Leu­te in Au­gen­schein neh­men, viel­leicht das ei­ne oder an­de­re Ge­spräch füh­ren. Im Prin­zip weiß ich ja, aus der Be­ob­ach­tung mei­ner Mit­men­schen, dass sich Be­find­lich­keits­ver­än­de­run­gen durch die Co­ro­na­Kri­se ein­ge­stellt ha­ben, ob dar­aus be­reits ei­ne po­li­tisch ei­gen­stän­di­ge Be­we­gung ent­stan­den ist, wer­de ich viel­leicht nächs­te Wo­che sa­gen kön­nen. Doch so oder so, po­li­tisch wirk­sam sind die Ver­än­de­run­gen, wie die ent­ste­hen­de Be­we­gung, si­cher. Al­le Par­tei­en müs­sen dar­auf ein­ge­hen. Wir ge­hen in­ter­es­san­ten Zei­ten ent­ge­gen, hof­fe ich.



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