Es gab einen Zeitpunkt in meiner Kindheit, ab da war ich davor gefeit ein Antisemit zu werden, das war im Oktober 1973. Damals war ich dreizehn Jahre alt und Juden kamen, bis dahin, in meinem Leben nicht vor. Natürlich wusste ich vom Holocaust, von Auschwitz und den Konzentrationslagern, doch irgendwie schien mir das alles so weit weg, kannte keine Juden. In der Familie wurde nicht darüber gesprochen und was mir in der Schule darüber erzählt wurde, einer Polytechnischen Oberschule (vergleichbar mit einer Realschule im Westen), das ging an mir vorbei. Manchmal hörte ich von Gleichaltrigen dumme Sprüche, wenn sie beispielsweise über jemanden, den sie nicht leiden konnten, sagten: „Den sollte man vergasen“! Wahrscheinlich habe ich diesen Spruch nie gebraucht, wenn den meine Mutter mitbekommen hätte, sie hätte mir die Leviten gelesen, wahrscheinlich sogar geohrfeigt.
Einmal hatte ich einen aufgeschnappten Fluch benutzt „Gott verdamm mich!“, eigentlich ein weit verbreiteter Spruch, wenn irgendwas misslungen ist, doch sie nahm das ernst. „Überlege dir, was du dir wünschst, Gott soll dich also verdammen?“ ermahnte sie mich eindringlich. Worte, auch wenn sie nur leichtfertig ausgesprochen wurden, haben eine Bedeutung, die auf den zurückfällt, der sie ausspricht. Das wurde mir schon in der Kindheit klargemacht, allerdings nur im Elternhaus, nicht in der Schule, dort war die Sprache sowieso künstlich und verlogen, ein immerwährendes Nachplappern des Gewünschten.
Eine kleine Anmerkung noch, als Beispiel, wie wichtig meine Mutter Flüche und Verwünschungen nahm, hat mit dem Heine Gedicht »Die schlesischen Weber« zu tun. Das mussten wir in der Schule lernen und im Deutschunterricht vortragen. Ich aber weigerte mich, kündigte das wenigstens an, wollte die zweite Strophe nicht aufsagen. Die beginnt mit den Worten „Ein Fluch dem Gotte, zu dem wir gebeten“ und hatte damit die volle Unterstützung der Mutter, was selten vorkam, meist wurde ich dazu angehalten zu folgen und mich anzupassen. Hier aber unterstützte sie mich. Allerdings hatte die Deutschlehrerin, Fräulein Joachim – auf die Anrede Fräulein bestand sie – wohl von meiner geplanten Verweigerung Wind bekommen, vielleicht konnte sie mich auch nur gut einschätzen, sodass ich nicht aufgefordert wurde, dieses Gedicht vorzutragen.
Ich konnte die Lehrerin damals nur schwer einschätzen, sie schien mir zu sehr im System eingebunden, was kein Wunder ist, bei der Literatur, die auf dem Lehrplan stand. Ostrowskis »Wie der Stahl gehärtet wurde« etwa. Fairerweise muss ich natürlich sagen, dass auch viel richtig gute Literatur gelehrt wurde, doch die wurde immer in den gewünschten politischen Kontext gesetzt. Auch deshalb las ich, schon als Kind, nur Literatur, die nicht in der Schule behandelt wurde.
Was Fräulein Joachim wirklich dachte, erfuhr ich erst viel später, als ich schon zwei oder drei Jahre aus der Schule raus war. Ich traf sie in einer Buchhandlung in Glauchau, hatte dort gerade eine illustrierte Ausgabe von E. T. A. Hoffmanns »Das fremde Kind« erstanden. Sie erblickte mich und das Buch in meiner Hand und ein Lächeln des Glücks erfasste ihr Gesicht. Sofort sprach sie mich an und erzählte mir, immer noch ganz Lehrerin, was für ein großartiger Schriftsteller dieser Autor sei. Wir unterhielten uns noch eine Weile und das war das angenehmste Gespräch, was ich je mit ihr geführt habe. Auf dem Heimweg machte ich mir ein paar Gedanken darüber, wie es jemand wie sie, die ganze Zeit, die vielen Jahre, in dem Schulsystem ausgehalten hat, wo praktisch nur indoktriniert wurde, freie Gedanken aber als gefährlich galten.
Manchmal, in der Schule, trieben wir Schüler unsere Scherze mit den Lehrern, hinter den aufklappbaren Tafeln wurden, beispielsweise, obszöne Zeichnungen gekritzelt, oder andere kleine Gemeinheiten. Die, die das taten, machten es nicht in erster Linie, um den Lehrer zu schädigen oder zu ärgern, sondern meist nur, um in der Klasse als toller Hecht wahr genommen zu werden. Nun aber, da ich meine Deutschlehrerin als wirklich sehr nette Person, die wahrscheinlich auch unter einem politischen Anpassungsdruck stand, nicht im Unterricht sagen durfte, was sie wirklich dachte, kennenlernte, erfasste mich ein schlechtes Gewissen, wegen dieser auch mit ihr gemachten Scherze. Manchmal, wenn ein Lehrer besonders verhasst war, bei mir war es der Sportlehrer, nicht wegen des Unterrichtsfachs, sondern wegen seiner autoritären und diktatorischen, manchmal gemeinen Art, wie er mit uns umging, dann wurde aus den Scherzen direkte Angriffe auf den Lehrer.
Er, der Sportlehrer, kam immer mit seinem Moped zur Schule, einem Sperber, wie ich mich noch gut erinnern kann. Das Gefährt haben wir sabotiert, in den Kerzenstecker Papierschnipsel gesteckt, Luft aus den Reifen gelassen, Verschraubung von Seitenteilen entfernt und so manches mehr. Das hätte teilweise schon gefährlich für ihn werden können und war kein allgemeiner Scherz mehr, sondern persönlich. Er sollte büßen für das, was er uns antat. Heute wäre das sicher justitiabel, war es damals wahrscheinlich auch, aber es ist sowieso verjährt.
Wichtig ist, bei allem Unsinn und allen Gemeinheiten, die in der Schule von den Kindern gemacht werden, aus welchen Grund sie geschehen. Ist es Selbstdarstellung vor den Kumpels, wie die Scherze mit der Deutschlehrerin, oder Antwort auf eine Kränkung oder empfundene ungerechte Behandlung, wie beim Sportlehrer?
Doch wie hätte meine Mutter reagiert, wenn Sie etwas davon mitbekommen hätte? Natürlich wäre ich ins Gebet genommen wurden, wie man umgangssprachlich so sagt, und meine mangelnde Empathie gegenüber der Deutschlehrerin angesprochen worden. „Deine Selbsterhöhung geht auf Kosten anderer Menschen, die dir nichts Böses wollen“, höre ich sie sagen, natürlich nur imaginär, ich habe ihr diese Worte einfach in den Mund gelegt. Wahrscheinlich hätte sie sich etwas anders ausgedrückt, aber sinngemäß stimmen sie sicher. Komplizierter wird der Fall bei dem Sportlehrer, denn hier gingen Kränkungen voraus, sich dagegen zu wehren hätte natürlich, in ihren Augen, eine gewisse Berechtigung gehabt. Hier wäre es dann zu einer Belehrung über die Wahl der Mittel gekommen, wie man sich gegen empfundene erlittene ungerechte Behandlung wehren kann. Sicher hätte sie mich dabei auch ermahnt, dass ein erlittenes Unrecht nicht durch ein von mir begangenes Unrecht beantwortet werden darf, und das ich lernen muss, mit Ungerechtigkeiten zu leben, die Welt ist voll davon, sie als Heimatvertriebene aus Schlesien, machte es vor. Gerade dieser letzte Punkt, Unrecht zu ertragen, fiel mir immer schwer, bis heute.
In welche Kategorie fällt eigentlich das Aiwanger-Flugblatt, das wohl vom Bruder des derzeitigen Vorsitzenden der Freien Wähler in Bayern verfasst wurde, diente es der Selbsterhöhung oder war es eine Antwort auf eine erlittene Kränkung? Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht, doch wenn man den Verlautbarungen des Bruders glaubt, war es wohl hauptsächlich letzteres. Aber mir ist das letztlich auch egal, will mich mit diesem Text eines Schülers, von dem ich so gut wie gar nichts weiß, den ich nicht kenne, nicht beschäftigen. Wenn ich hier nur den Text beurteile, das einzige, was ich seriös tun kann, da ich von den Umständen seiner Entstehung nur eine nebulöse Vorstellung habe, dann sieht es doch sehr nach einer misslungenen Antwort auf eine Kränkung aus.
Damit wäre es für mich auch erledigt, eine weitere Beschäftigung mit diesem Flugblatt oder der Familie Aiwanger nicht notwendig, lediglich ein Anlass, darüber nachzudenken, welchen Unsinn man selbst eigentlich in Schulzeiten angestellt hat. Dass es dennoch der Grund für diesen Text hier ist, hat mit der Reaktion der Öffentlichkeit zu tun, insbesondere der Vorwurf des Antisemitismus, der sofort im Raum stand, den ich aber aus dem Text nicht herauslesen konnte und der reichlich konstruiert wirkt. Was es dazu zu sagen gäbe, hat schon Michael Wolffsohn getan und dem habe ich nichts hinzuzufügen. Ich will auch nicht weiter auf das üble Spiel von Politikern und Journalisten eingehen, die Vorwürfe kreieren, um einen Gegner fertig zu machen, auch dazu ist schon genug gesagt worden. Nein, was mich umtreibt, ist der in den Raum gestellte Antisemitismus und speziell die Frage: Warum wurde ich kein Antisemit? Es ist so eine Marotte von mir, immer wenn irgendein Thema die Öffentlichkeit beherrscht, darüber nachzudenken, was es mit mir zu tun hat. Betrifft es mich, bekomme ich Ängste, ein ungutes Gefühl, vielleicht Zorn, und vor allem, warum bin anders als die Erregten, oder, je nach Thema, die Gleichgültigen?
Oberflächlich betrachtet, werden solche Emotionen oft mit Erkenntnissen und Sachverhalten in Verbindung gebracht, auch weil sie in Diskussionen das Einzige sind, was man vorbringen kann. Klimakleber haben das Kohlendioxid, Antisemiten irgendwelche Verschwörungen, Islamisten Koranauslegungen. Mir sind diese Begründungen meist zu oberflächlich, schon weil es immer Gegenargumente gibt, die Möglichkeit, einen Sachverhalt anders zu sehen. Das trifft auch auf Argumente zu, die eigentlich meine Sicht der Dinge unterstützen, je häufiger ich sie höre, desto skeptischer werde ich. Erkläre mir den Weg, wie du zu deinen Erkenntnissen gekommen bist, erzähl mir von deiner Kultur, die dich prägte?, möchte ich dann gerne den Argumentierer fragen. Ein Mathelehrer interessiert sich auch für den Rechenweg, die Klarheit einer Gleichung und nicht nur, ob das Ergebnis stimmt.
Warum bin ich also kein Antisemit geworden? Natürlich ist es verführerisch, diese Frage unter Verwendung von viel Moral und Ethik zu beantworten, doch gerade damit wird, vor allem in der Politik, viel Schindluder getrieben. Die ach so Moralischen erwecken regelmäßig mein Misstrauen. Also beginne ich in meiner Vergangenheit zu graben und lande wieder in der Kindheit. Immer häufiger geschieht mir das, zehn oder fünfzehn Jahre werden dominant in der Erklärung meines Selbst, so stark, dass die folgenden vierzig oder fünfzig Jahre wie ein Abspann wirken.
Vier Kreise zeichne ich, in denen ich mich hauptsächlich bewegte: das Elternhaus, die Schule, die Kumpels und die Kirche, später, mit der erwachenden Sexualität, wird es ein wenig komplizierter, mit neuen Begierden und Sehnsüchten ändern sich auch die Kreise, in denen man sich bewegt, doch die will hier nicht besprechen. Beim Thema Antisemitismus muss ich nur bis in mein 13. Lebensjahr gehen, was da geschah, prägte mich und die Sexualität spielte noch keine Rolle.
Für jemanden wie mich, dessen Gedankengänge meist mäandern und selten gradlinig sind, ist nun die Verlockung groß, die Frühsexualisierung anzusprechen, deren Auswüchse heute zu beobachten sind. Doch diese Kurve nehme ich jetzt hier nicht, obwohl es sicherlich auch mal einer Betrachtung wert wäre, mir auszumalen, was mit mir passiert wäre, wenn dieses Thema in meine Kindheit hinein mir aufgedrängt worden wäre.
Jetzt bleiben wir aber mal bei den vier Kreisen und lassen den Sex beiseite, er spielte damals noch keine Rolle für mich. Die Kumpels habe ich oben schon erwähnt, Sprüche wie „den sollte man vergasen“ waren geläufig, aber mehr als eine Wichtigtuerei. Juden oder Israel waren kein Thema, wir kannten niemanden, wussten von niemanden, der Jude ist. Nicht mal interessierte es uns, ob irgendwelche Schauspieler, Schriftsteller oder Musiker jüdisch sind. Im Elternhaus sah es ähnlich aus. Hier kann ich nur an dem, wie sich meine Mutter sonst bei verwandten Themen verhalten hat, ableiten, was sie dazu gesagt hätte. Sicher ist, wäre ein antisemitischer Text von mir aufgetaucht, oder so etwas wie das Aiwanger-Flugblatt, sie hätte geweint, aus Enttäuschung über mich.
Dann die Schule. Dort wurde von den Zionisten gesprochen, wie die den Palästinensern das Land und die Heimat raubten und ähnliche Narrative. Keiner wusste, was Zionist bedeutet, es wurde auch nicht erklärt. Wenn also von aktuellen politischen oder gesellschaftlichen Phänomenen gesprochen wurde, dann immer im Kontext einer als Wunschziel angestrebten sozialistischen Völkergemeinschaft unter Führung der Sowjetunion. So ähnlich ist es bei Linken bis heute, ein wenig angepasst und den Focus nicht mehr auf ein Land mit Führungsanspruch gelegt, aber im Grunde vergleichbar. Ein Klassenkamerad wagte es einmal im Unterricht zu sagen, er habe nichts gegen die Kapitalisten, sie seien auch Menschen. Das genügte den Direktor der Schule auf den Plan zu rufen und der ging dann in die Klassen und erklärte den Schülern, dass der Schüler Christoph ein Kapitalistenfreund sei und somit ein Feind unseres fortschrittlichen Sozialismus. Der Schüler wurde an den Pranger gestellt, was ihn aber sehr populär machte und Bewunderung für seinen Mut einbrachte.
Die Welt war zweigeteilt, hier die sozialistischen Guten unter Führung der Sowjetunion, dort die kapitalistischen Bösen, von den USA verführt. Wie gesagt, bei den Linken hat sich nicht viel geändert seit dem, außer die Lobpreisungen auf die UdSSR, die verkneift man sich. Diese Zweiteilung der Welt in Gut in Böse bewirkte, dass Israel als Feind betrachtet wurde. Ob das schon unter die Kategorie Antisemitismus fällt, weiß ich nicht, aber sicher wurde mit vorhandenen antijüdischen Bildern gespielt. Dass diese Bilder wirksam waren, daran besteht kein Zweifel, auch der Fluch der Kumpels „den sollte man vergasen“, ist ein starkes Indiz dafür. Kaum einer reflektierte diese Sprüche, die meisten Kumpels oder Klassenkameraden hatten andere Mütter als ich.
Sicher ist, Antisemitismus hat sich gut mit der Propaganda vertragen, er stand nie im Widerspruch zum System, wurde vor allem dann billigend in Kauf genommen, wenn es darum ging, den Feind Israel, die Zionisten, zu diskreditieren. Dieser Fokus auf den Staat Israel macht sicher den Unterschied zwischen dem Antisemitismus der Nazis, und dem der Kommunisten aus. Während die einen wissenschaftlich argumentierten, über Blut und Abstammung, taten es die anderen politisch. Im Ergebnis kamen sie zur gleichen Aussage: Der Charakter der Juden ist verdorben, so die Nazis, der Charakter der Zionisten ist verdorben, so die Kommunisten.
Wenn wir die Gedankengänge, wie diese Personen zu ihren Überzeugungen kamen, etwas genauer verfolgen, die Rechenwege kontrollieren, wie der Mathematiker sagt, dann werden viele Ungereimtheiten sichtbar, beispielsweise die durchaus politisch linke Ausrichtung des Zionismus. Aber das auszusprechen, hätte einen ähnlichen Pranger zur Folge gehabt, wie ihn mein Klassenkamerad erfahren hat.
Kommen wir zum vierten Kreis, der Kirche. Fairerweise kann ich von „der Kirche“ gar nicht viel berichten, zu unklar und wenig deutlich erscheint sie mir bis heute. Eine Organisation, die Glaubensfragen und die Religion vertritt und repräsentiert, Identitätsprozesse ebenso, ein Zugehörigkeitsgefühl? Sicher von allem etwas, für mich aber war sie ein Ort der Suche nach alternativen Erklärungen, nach irgendwas, was weder im Elternhaus, schon gar nicht in der Schule oder bei den Kumpels zu finden war.
In der Georgenkirche in Glauchau befand sich eine Silbermannorgel und wenn da Bach gespielt wurde, ein Konzert gegeben wurde, dann war die Hütte voll. Eine Ahnung von Freiheit entwickelte sich, ein Glücksgefühl entwickelte sich dort. Für mich ist Johann Sebastian Bach bis heute der größte Komponist aller Zeiten, ganz einfach wegen dieser Konzerterlebnisse in Kindertagen. Keine Rockband der Siebziger Jahre, die von uns natürlich auch vergöttert wurden, kam da je heran.
Aber diese Offerte in die Welt der Kultur und des Geistes, die mir die Kirche gab, hat erst mal nichts damit zu tun, dass ich kein Antisemit wurde, sondern mit einem Pfarrer. Der war nämlich ein Rebell, ich erzählte schon mal von ihm. Also dieser Pfarrer war in unsere kleine Gemeinde versetzt worden und somit auch der, der uns in Religion unterrichtete, Christenlehre nannten wir es. Das geschah natürlich nicht in der Schule, sondern im Gemeindehaus und war ganz und gar freiwillig. Etwa ein Drittel meiner Klasse ging da hin.
Jetzt kommen wir zum Oktober 1973, der Jom-Kippur-Krieg brach aus, Israel wurde von seinen Nachbarn überfallen. Sofort ging in der Schule die Propaganda los, der Überfall wurde als Befreiungskampf gegen die Zionisten dargestellt, das übliche eben, nur etwas intensiver. Im Elternhaus wurde, zumindest vor den Kindern, nicht darüber gesprochen und die Kumpels interessierte dieser Krieg nicht, viel zu weit weg. Doch der neue Pfarrer, der ergriff Partei für Israel. In der Christenlehre zeigte er Landkarten, machte uns begreiflich, welch kleines Land Israel ist und von welcher Übermacht es überfallen wurde. Den Kriegsverlauf auf dem Sinai zeigte er uns auf, beschrieb, wie Ariel Scharon die 3. ägyptische Armee einkesselte und wie es den Israelis dann gelang, bis kurz vor Kairo vorzustoßen. Nein, unser Pfarrer versuchte gar nicht den Anschein von Neutralität zu bewahren, er zeigt klar und deutlich, wo seine Sympathien lagen. Der Religionsunterricht wurde zur Nebensache, wir sprachen nur vom Verteidigungsfall der Israelis.
Anfangs waren wir Jugendlichen etwas irritiert, wie hier jemand so eindeutig Partei ergreifen kann, so klar gegen die staatliche Propaganda gerichtet. Ein Kumpel meinte auf dem Heimweg: „na ja, der stellt das schon ein wenig einseitig dar“. Ich erkannte da das erste Mal seine Feigheit, er wollte bloß nicht mit etwas in Verbindung gebracht werden, was ihm schaden könnte. Das zog sich später durch sein weiteres Leben. Auf einem Klassentreffen, Anfang der neunziger Jahre, rechtfertigte sich dieser Kumpel wortreich mit einem Unglücksfall in der Familie, der hätte bewältigt werden müssen, warum er sich nicht an den Protesten zum Ende der DDR beteiligte.
Doch in mir war das Interesse geweckt, an Israel, an den Juden. Wie schaffte es ein so kleines Land, mit einer Übermacht von Feinden als Nachbarn, zu überleben? Der Holocaust kam mir in den Sinn, auch der hatte das Volk nicht vernichten können. Was mir früher nie aufgefallen war, einfach weil es mich nicht interessierte, wurde nun beachtet. Wie viele deutsche Juden es als Künstler, Wissenschaftler, Schriftsteller, überhaupt Geistesgrößen, es gab. Irgendwas Besonderes musste an ihnen sein. Dass die von Natur aus schlauer als andere Leute sind, wollte ich nicht glauben, es musste mit der Kultur oder der Erziehung zu tun haben, mit dem Wissen ein Außenseiter zu sein. Weitere, andere Erklärungen folgten, keine befriedigte mich. Es wird wohl eine der unbeantworteten Fragen bleiben, die mein Leben weiter begleiten.
Momentan neige ich dazu, es als eine Auswirkung der zwei Perspektiven zu deuten. Einerseits sind sie dazugehörig, empfinden sich als Deutsche, verbunden mit der Kultur und den Menschen, andererseits aber auch wieder nicht. Sie haben gleichzeitig eine Innen- und eine Außenperspektive, das wird ihnen geradezu in die Wiege gelegt und ist etwas, was ich mir erst mühsam erkämpfen musste.
Aber jetzt gleite ich so eine Art selbstgebastelter Philosophie ab, wenngleich Sloterdijks Ausführungen zur Neotenie des Menschen schon mit reinspielen, wonach der Mensch vor allem ein Kulturgeschöpf ist, und beende besser diesen Text – mit einem Dank an meine Mutter und den Pfarrer, die hauptsächlich dafür sorgten, dass ich kein Antisemit wurde. Aber nicht nur das, ich habe gerade diesen beiden noch erheblich mehr zu verdanken, einen Großteil meines Seins. Die Kumpels verschwinden dagegen in der Bedeutungslosigkeit und was die Schule betrifft, da bin ich froh, dass die keinen noch größeren Schaden angerichtet hat. Ich brauche keine Massen oder Ideologien, um mich zu identifizieren und zu erklären, es genügen einige wenige Einzelpersonen.
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Mir ging es so ähnlich. In der Schulzeit hatte ich außer im Geschichtsunterricht keinen irgendwie gearteten Bezug zu Juden. Und das war halt eben Wissen, das man hatte, aber nichts Emotionales.
AntwortenLöschenNach dem Schulabschluss ,1986, lernte ich den Beruf des Schriftsetzers und war in der Berufsschule in Pößneck. Dort gab es neben unserem Internat noch eines, das von Ausländern bewohnt wurde. Meist Kubaner, ein paar Leute aus Nicaragua und eben Palästinenser. Die lernten dort ebenfalls Berufe in der Druckindustrie - und wie sich später herausstellte, nicht nur die. Schon komisch, wenn du damals einen kanntest, der heute als Terrorapologet einen Namen hat. Und er ist in seiner Zeit in der DDR wohl nicht nur an Druckmaschinen ausgebildet worden ...
Jedenfalls, diese Palästinenser hatten in der Berufsschule eine Ausstellung gestaltet. Es ging um den Jahrestag von Deir Jassin. Damals wußte ich nichts darüber. Aber wir sahen uns die Ausstellung an - mußten wir. Dafür war sie schließlich aufgebaut worden. Ich lief da also durch, schaute mir die Bilder an und las die Erläuterungen dazu - und ging mit der absoluten Gewißheit raus, dass ich belogen worden war. Ohne, dass ich das damals rational hätte erklären können. Wahrscheinlich war die Propagandaschicht einfach nur viel zu dick aufgetragen. Jedenfalls war mein Interesse durchaus geweckt - allerdings sicher nicht in der Weise, wie es gedacht gewesen war.
vielen Dank für Ihren spannenden Beitrag, warum Sie kein Antisemit geworden sind.
AntwortenLöschenBei ganz anderen Voraussetzungen sehe ich doch viele Parallelen bei mir.
Herzliche Grüße aus Nt