19. März 2014

Mein Held, ein Knecht

Fast täglich muss ich derzeit an die Erzählungen meiner Mutter denken, die als Kind aus Schlesien flüchten musste. Glück im Unglück war, dass sowohl ihre Mutter und ihr Vater dabei waren, ebenso die ältere Schwester. Doch was war in diesem Schlesien? Einen Bauernhof gehörte der Familie, ein verschwommenes Foto davon hing gerahmt zu Hause rum, an keinem besonders wichtigen und auffälligem Platz, doch trotzdem immer wieder beachtet. Um die acht Jahre alt war sie, meine Mutter, als sie dort weg musste und sie hat sich nie darüber beklagt. Die Welt ist wie sie ist, oft ungerecht, und wenn man seine Heimat verliert, dann kann man nichts machen. Über Politik hat meine Mutter nie gesprochen, es hat sie nicht interessiert, wohl aber die Menschen. Und wenn sie über die Menschen sprach, dann sprach sie gut, böse Leute haben in ihrer Erinnerung keine Platz, zumindest will sie diese nicht noch aufwerten, indem sie von ihnen berichtet.

Einen ukrainischen Knecht hatten sie auf dem Hof, von dem berichtete sie gern. Dass der besser mit den Pferden umgehen konnte als der Vater, und dass er für die Kinder des Dorfes gerne Trillerpfeifen geschnitzt hatte. Und sie hat es nie verstanden, warum die ukrainische Magd, von der berichtete sie nicht so viel, und der ukrainische Knecht nicht mit am gleichen Tisch wie die ganze Familie zu Mittag essen durften. Das hätte Ärger mit den Nazis gegeben, so sagte sie. Aber wenigsten haben sie das gleiche Essen bekommen, was wohl nicht so selbstverständlich war. Ein anderer Bauer im Dorf wurde in den Wirren als die Flucht begann, umgebracht, weil er seine ihm anvertrauten Zwangsarbeiter arg geschunden und misshandelt hätte. Mein Mutter zeigte wenig Bedauern darüber.

Als sie dann los mussten, ich weiß jetzt nicht ob auf behördliche Anordnung, oder aus freien Stücken weil die Russen nicht mehr weit weg waren, war der ukrainische Knecht höchst verzweifelt. Er wollte mit flüchten, überall hin, nur nicht in die Hände der Russen fallen, davor hatte er wohl eine Riesenangst. Das ging aber nicht. Ob die Familie ihn nicht mitnehmen wollte, oder nicht durfte, oder nicht konnte, ist mir heute nicht mehr klar. Vielleicht hat sie erzählt, aber ich finde nichts darüber in meiner Erinnerung.

Ich habe ihn nie kennengelernt, diesen ukrainischen Knecht, und auch meine Mutter weiß nicht was aus ihm geworden ist. Dennoch war dieser Mann ein Held meiner Kindheit und frühen Jugend. Er war gut zu meiner Familie, hat den Kindern Freude bereitet, konnte gut mit Tieren umgehen, und als Krönung, er war ein Gegner der Russen. Denn die waren für mich gleichbedeutend mit Kommunismus oder Sozialismus. Weil unter der Knute des Sozialismus musste ich aufwachsen und kann mich nicht erinnern, jemals Sympathien gegenüber dieser Ideologie, die ich als Kind ja sowieso nicht verstand, gehabt zu haben. Irgendwas war falsch, mit dem Wort Klassenfeind konnte ich schon nichts anfangen. Wenn ich das Wort Feind zu Hause gebraucht hätte, ein Zurechtweisung wäre mir sicher gewesen: „Es gibt keine Feinde, nur Menschen.“ Das hat sie wahrscheinlich so nie gesagt, meine Mutter, doch genauso habe ich sie verstanden.

„Die Russen sind aber kinderlieb“, dieser Ausspruch fiel öfters. Und wenn wir Kinder, es gab ja viele Nachbarskinder, die mal bei dem einem, mal bei dem anderen zu Hause spielten, ja wenn wir Kinder uns abfällig über die Russen äußerten, dann kam der Spruch, auch als Ermahnung: „Die Russen sind kinderlieb.“ Dabei hatten wir Kinder keinen Kontakt zu Russen. Es gab eine russische Kaserne in der Nähe, doch die Soldaten, die einfachen sowieso, konnten da ja nicht raus. Kontakte zu den Deutschen gab es nur hin und wieder, wenn Soldaten Sprit aus ihren Panzern geklaut hatten, sich dann damit heimlich aus der Kaserne entfernten, um diesen Sprit, mitsamt dem geklauten Kanister zu verkaufen. Dafür hatte man Verständnis, die einfachen russischen Soldaten waren ja ganz beschissen dran. Die hatten nichts, bekamen nichts, wahrscheinlich nicht mal genug zu fressen. Es gingen auch Gerüchte rum, man müsse vorsichtig sein, weil manchmal die Kanister halb voll Wasser wären, der Sprit schwimmt ja obendrauf, so dass man dies erst merkt, wenn man den Kanister leert. Allerdings habe ich niemanden sagen hören, dass dies bei ihm selbst passiert wäre, immer wurde diesbezüglich irgendein Fremder genannt.

Später dachte ich, es wurden derartige Gerüchte auch gezielt gestreut, von den Kommunisten, wie wir sie immer abschätzig nannten. Dass sowas geschah war ja klar und bekam seine Bestätigung als in Polen die Solidarność ihren Siegeszug begann. Auf einmal tauchten Polenwitze auf, die aber nicht mehr den gängigen Mustern entsprachen und sehr gekünstelt wirkten. Wer diese Stasi-Polenwitze verbreitete, hatte aber in der Dorfkneipe keine guten Stand und musste einigen Spott ertragen.

Überhaupt war es mit der Völkerverständigung so eine Sache. Die gab es nämlich eigentlich gar nicht und beschränkte sich auf organisierte Events mit ausgesuchten Teilnehmern und Publikum. Zu Polen waren die Grenzen bis Solidarność noch offen, zur Tschechoslowakei auch, das war es dann aber auch schon. Aber es gab Erinnerung, vor allem an den Krieg. Der Bio-Lehrer erging sich in langen Erzählungen über Italien, es war sein Erlebnis. Persönliche private Kontakte, ein Kennenlernen des Privaten des anderen fand nicht statt. Geschichten kursierten, in denen die Nachbarvölker in einer geradezu als Karikatur anmutenden Weise beschrieben wurden.

Nicht bei mir zu Hause, da spielte Politik keine Rolle, es wurde über Personen berichtet, die die man kannte oder kennengelernt hatte. So war auch der Ausspruch meiner Mutter, dass die Russen kinderlieb sein, ein Ergebnis von Erlebten. Irgendwo, ich glaube in Tschechien, wurde der Flüchtlingstreck von den Russen eingeholt. Dann ging es nur noch ums Überleben und wo bekomme ich was zu fressen her. Da gab es nur eines: zu den Russen. Von den Erwachsenen traute sich keiner freiwillig Kontakt aufzunehmen, die Männer mussten um Leib und Leben bangen, die Frauen mit großer Wahrscheinlichkeit um ihre Ehre. Doch die Kinder, die bekamen von den Russen alles, also schickte man die Kinder zum betteln dahin. Damit war klar, Russen sind kinderlieb, denn das wenige was sie hatten, teilten sie mit den Kindern.

Ist das Leben meiner Mutter eine Geschichte, oder ist es Geschichte. Die großen Linien, die großen Konflikte, Dinge die sich in der Geschichtsschreibung wieder finden, oder auch in den täglichen Nachrichten, sind nicht zu erkennen. Aber es war erlebte Geschichte, die als sie weiter erzählt wurde, offenbarte, dass die Welt viel komplexer ist als uns gerne von den großen Vereinfachern in den Medien, oder in der Schule, weiß gemacht wird.

Für mich wurde in Kindertagen ein Mann zum Held der weder meinem Volk angehörte, den ich niemals sah, wie auch; der aber dennoch ein geradezu lebendiges Bild von sich in meine Phantasie malte. Und an diesen Mann, dessen Name ich nicht mal weiß, musste ich immer wieder denken seit die Unruhen in der Ukraine ausgebrochen sind. Die Russen habe ich dabei nicht vergessen, die Geschundenen über Jahrhunderte, immer Opfer irgendwelcher Despoten, die dann aber das Wenige was sie haben, mit den Kindern geteilt haben.

Ich bin meiner Mutter sehr dankbar für ihre Geschichten, die ja auch ihre Geschichte ist, die sie zäh verteidigen musste. Bei Familienfesten, wenn ein paar Großtanten anwesend waren (die Großonkel waren schon alle tot), wurden auch andere Geschichten erzählt. Die der Vertreibung, des Leids, des Bösen. Was die Polen mit unserem schönen Land angestellt haben, und wie erst die Russen hausen. Meine Mutter war dann immer ganz still, es sind und waren nicht ihre Geschichten.

Vielleicht lag das auch daran, dass sie sich noch einen Kindertraum erfüllen wollte: das Riesengebirge zu besuchen, dessen ferne Berge ein Sehnsuchtsort ihrer Kindheit war. Irgendwann hatte sie sich diesen Wunsch erfüllt und bei dieser Gelegenheit auch ihr Geburtshaus aufgesucht, irgendwann in den Siebzigern des letzten Jahrhunderts. Dies wurde ein Fest von dem noch lange in der Familie gesprochen wurde. Ein Truthahn, oder eine Gans, ich weiß nicht mehr genau was für ein Federvieh, wurde geschlachtet und die polnische Familie sowie meine Mutter, feierten zusammen an dem Ort der einstmals ihre Heimat war, und nun die von anderen Menschen wurde.

Die Fotoalben die von diesen Treffen zeugten, es folgten nämlich noch einige weitere, erzählten die Geschichte weiter. Über gegenseitigen Respekt und Verständnis. Die große Politik blieb außen vor, sie wäre nur störend gewesen.

Wenn nun heute das Nationale überall in der großen Politik, nicht nur in Russland und in der Ukraine, sondern auch in Deutschland, Frankreich; bei den Schotten und den Basken, seine Wiederauferstehung feiert, dann denke ich auch an den Held meiner Kindheit, für den seine Nationalität, für er ja nichts konnte, bedeutete, dass er nicht mit den Menschen zusammen leben durfte die er liebte.

Wahrscheinlich deshalb habe ich auch nie begriffen, was den eigentlich Nationalität mit Freiheit zu tun hat. Für den einzelnen kann das nämlich ganz große Unfreiheit bedeuten und sogar lebensbedrohlich sein.

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