Wolfgang Thierse löste mit seiner Äußerung über mangelnde Anpassungsbereitschaft der Schwaben in Berlin heftige Reaktion in den Medien aus. Mittlerweile sind die Wogen geglättet, was uns die Gelegenheit gibt, einmal nachzuschauen warum wichtige Befindlichkeiten verletzt worden. Als erstes denkt man natürlich an die Angst vor dem Verlust der Heimat, dabei spielt Sprache und Dialekt natürlich eine große Rolle. Und oftmals auch Romantik verbunden mit eine Wohlgefühl im Milieu, welches aber nicht homogen ist, sondern eine Dispersion verschiedener Lebensentwürfe darstellt; von außen als homogene Gruppe betrachtet, in Wirklichkeit eine Vermischung von Einzelteilen ist.
Nun wurde manchmal gesagt, was dem Rechten die Araber sind, sind dem Linken die Schwaben. Diese Aussage ist aber, obwohl vordergründig einleuchtend, im Grunde falsch. Um beim Bild einer Dispersion in Form von Milieu bleiben, so bilden Ausländer nur einen neuen Bestandteil in diesem Gemenge, verändern aber die anderen Bestandteile der Dispersion nicht. Ganz anders die Personen die Thierse etwas despektierlich Schwaben nannte - Henning Sußebach nannte sie, in einem sehr beachteten ZEIT-Artikel, Bionade-Biedermeier oder ÖkoSchwaben und trifft damit wohl besser den Kern - ja diese Schwaben stehen sicher nur stellvertretend für eine besondere Personengruppe, diejenigen die mit genügend Ressourcen ausgestattet, zumeist aus dem Westen kommend, nun in die Einzelbestandteile des Milieus eindringen. Sie sind eben nicht nur ein weiterer Bestandteil dieser Dispersion, sondern wirken auf die Einzelbestandteile ein und verändern diese.
Gentrifizierungsprozesse laufen natürlich ebenso ab, doch auch diese können den Wandel in Gesellschaft und Milieu nur unzureichend beschreiben, sind auf lokale Vorgänge beschränkt. Um zu verstehen was wirklich passiert müssen wir den Prenzlauer Berg verlassen und uns die Gesellschaft der ExDDR etwas genauer anschauen, und zwar in der Zeit als Wolfgang Thierse seinen Wohnsitz nach Berlin verlegte und dort heimisch wurde. Die DDR war für deren Bewohner nicht mehr nur ein vorübergehendes Provisorium, sondern real mit eigener Identität. Auch wenn man dem System durchaus kritisch gegenüberstand, was nicht wenige taten, so fühlte man doch als DDRler und war sich der Andersartigkeit gegenüber Westdeutschen bewusst. Etwas was aus Westdeutscher Sicht nicht vollständig begriffen, sondern mit den Besonderheiten resultierend aus Diktatur und Eingesprerrtsein erklärt wurde.
Etwas Entscheidendes war nämlich bis dahin schon geschehen, der weitgehende Verlust des Bürgertums in der DDR. Es kam öffentlich praktisch nicht mehr vor. Reste hielten sich in den Freiräumen die die Kirchen boten und im selbstständigen Handwerk, dem aber immer mehr das Überleben unmöglich gemacht wurde. Während sich im Westen das Bürgertum nach dem Krieg recht schnell wieder etablierte, die Verstrickungen in die Naziherrschaft abschüttelte, und mit den Wohlstandszuwächsen der 50er Jahre auch die materielle Unabhängigkeit zunahm, was eine wesentliche Voraussetzung für eines auf Abgrenzung zum Proletarier bedachten Standes ist, dünnte das Bürgertum im Osten immer mehr aus. Zuerst hauptsächlich durch Flucht in den Westen, später durch restriktive Maßnahmen, die dem noch vorhandenem Bürgertum den Zugriff auf Ressourcen verweigerte, ohne die es nicht überleben konnte. Verstaatlichung von Privatbesitz, Enteignung sogenannter Kriegsverbrecher, oder Zwangskollektivierungen, sowie beschränkte Möglichkeiten auf Bildung und Pressezensur zeigten ihre Wirkung. Der politisch-ideologische Druck reichte bis in Karnevalsvereinen oder gar Kleintierzüchter und Schrebergärtner hinein und erreichte mit der Bodenreform auch den ländlichen Raum.
Ein ganzer Stand wurde ausgrottet: Das Bürgertum. An dessen Stelle sollte eine fortschrittliche Inteligenz treten und vor allem das Bildungsbürgertum ersetzen. Ansonst wurde aber ein Gesellschaftsmodell geschaffen, welches, neben den ideologischen Vorgaben, vor allem dadurch gekennzeichnet war, dass eine Heroisierung der Arbeiterschaft entstand. Der körperlich Arbeitende wurde nun in Statuen und Denkmälern erhöht und sollte den tragende Stand der Gesellschaft darstellen. Dieser Überhöhung konnten sich auch diejenigen Arbeiter nicht verschließen, die eigentlich mit der sozialistischen Ideologie nichts am Hut hatten und nur ein einigermaßen auskömmliches Dasein anstrebten. Es gelang dem SED-Regime aber nicht das Bildungsbürgertum zu ersetzen. Die neu entstandene Intelligenz, wurde nicht als vollwertiger Teil der Gesellschaft akzeptiert, sondern eher als Teil des Unterdrückungsregimes wahrgenommen. Das Bürgertum, und das wird oftmals nicht beachtet, ist auch so etwas wie ein Verbindungsglied zwischen den anderen Schichten der Bevölkerung. Offen für den Proletarier, der durch Bildung und materielle Besserstellung die soziale Leiter nach oben erklimmen kann, und ebenso offen auch für Kunst, Kultur, Literatur und Wissenschaft welches der Bildungsbürger so zwischenspeichern und wieder abgeben kann, dass es auch andere Schichten und Klassen der Bevölkerung verständlich ist und Wertschätzung erlangt.
Diese Pufferfunktion, sowohl in materieller, als auch in kultureller und wissenschaftlicher Hinsicht, ist in der DDR verloren gegangen. Die Kultur des kleinen Mannes wurde bestimmendes Element der Gesellschaft, die neue Intelligenz, ebenso die offizielle Kunst und Kulturpolitik sind nie von der Bevölkerungsmehrheit angenommen wurden. Seiner Aufstiegsmöglichkeiten beraubt, konzentrierte sich der kleine Mann auf seine kleine Welt. Dafür musste er sich nicht schämen, denn die Überhöhung des Proletariers in der Propaganda gab ihm die Gewissheit, genau das Richtige zu tun. Diese Haltung erfasste, um mich zu wiederholen, auch diejenigen die sonnst mit dem SED-Regime nichts am Hut hatten. Der noch aus der Nazizeit stammende Begriff Kulturschaffende wurde verwendet um Künstler in die Gruppe der werktätigen Bevölkerung zu integrieren. Was gründlich misslang.
Dennoch entstand eine kreative äußerst lebendige Kunst- und Kulturszene, die aber hauptsächlich im Verborgenen arbeitete. Der breiten Bevölkerung und dem kleinem Mann blieben diese Entwicklungen weitestgehend unbekannt, da, wie gesagt, ein Vermittler wie das Bürgertum fehlte, welches auch mit seinen materiellen Ressourcen hätte unterstützend wirken können. Und alles was Karriere machte, sei es in der Kunst oder in der Wissenschaft, war verdächtig sich mit den Mächtigen im Lande, sprich der SED, ins Bett zu legen. Auch wenn sie dies nicht taten, es wurde ihnen immer unterstellt. Lediglich Naturwissenschaftler waren von dieser Diffamierung weitestgehend ausgenommen, da deren Wirken sich, nach landläufiger Meinung, in konkrete praktische Ergebnisse umwandeln ließ und somit am ehesten mit der Proletarierkultur des kleinen Mannes kompatibel war.
Erste vorsichtige Annäherungsversuche zwischen diesen sich gegenseitig nicht verstehenden Bevölkerungsgruppen, denen der Werktätigen, der Künstler und der Wissenschaftler, gab es etwa ab dem Zeitpunkt der Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann. Künstler und Wissenschaftler wurden genötigt, sich von Biermann zu distanzieren, was aber bei weitem nicht alle taten. Diejenigen die sich zu Biermann bekannten wurden danach entweder zur Ausreise in den Westen gedrängt, falls sie prominent genug waren um nicht in Haft genommen werden zu können, mindestens aber verloren sie ihre Arbeitsplätze und mussten sich oftmals nun als gewöhnliche Arbeiter ihr Auskommen sichern. Nur wenigen stand der Weg in den Westen offen und nicht alle wollten diesen Nutzen.
Dem kleinen Mann blieben diese Vorgänge nicht verborgen, im Gegenteil, erstmals begann sich so etwas wie Sympatie und Verständnis für die Kulturschaffenden zu entwickeln; hatten die es doch gewagt sich mit den Mächtigen anzulegen. Wolfgang Thierse gehörte auch dazu, er hatte sich geweigert, obwohl als wissenschaftlicher Assistent beim Kulturministerium angestellt, eine Erklärung zu unterzeichnen wonach er die Ausbürgerung Biermanns befürworten sollte. Den Job war er dann los. Aber er hatte Achtung beim kleinen Mann errungen. Damit ließ es sich am Prenzlauer Berg gut leben. Hier kam es dann zu der Annäherung zwischen Kunst, Kultur, Wissenschaft und Werktätigen. Allerdings nicht so wie es sich die SED-Oberen vorgestellt hatten - doch das nur nebenbei. Aber auch hier fehlte ein Bürgertum, statt dessen wohnten und lebten avantgardistische Kunst, Angehörige der Intelligenz (oder Intelektuelle, wie man will) und der sprichwörtliche kleine Mann ohne Berührungsängste Tür an Tür und begannen sich gegenseitig zu respektieren, vielleicht auch zu verstehen. Romantisch verklärt möchte man vielleicht an den Montmatre vor gut hundertfünfzig Jahren denken.
Die Sozialisierung an Orten wie dem Perzlauer Berg geschah in Abwesenheit des Bürgertums, weil ein solches in der DDR nicht mehr existierte. Menschen rückten zusammen die sich normalerweise nicht viel zu sagen haben, und die auch nur unter diesen speziellen Bedingungen zusammenkommen. Doch nun ist das Bürgertum zurück. Dabei ist es völlig egal wie es benannt wird: Schwaben, Öko-Schwaben, Wessis, Immobiliengesellschaft oder was auch sonst noch. Den kleinen Leuten, die glaubten mit allen anderen nun auf Augenhöhe zu stehen, werden eines besseren belehrt. Künstler wenden sich dem Bürgertum zu, denn nur von dort sind Ressourcen zu bekommen die ein auskömmlicheres Leben und Wirken ermöglichen, überhaupt, vieles dreht sich nur noch ums Geld. Nein, Wolfgang Thierse hat in Wahrheit nichts gegen die Schwaben, er sollte sich eher mal überlegen ob er etwas gegen das Bürgertum insgesamt hat.
Das war das erste Fazit dieser Betrachtung, das zweite ist, diese Abneigung über die Rückkehr des Bürgerlichen ist nicht nur auf den Prenzlauer Berg beschränkt, sondern betrifft die gesamte ehemalige DDR. Heroisierung der werktätigen Bevölkerung sowie ein Kleine-Leute-Bild als erstrebenswertes Ziel erweisen sich als Sackgasse. Mit Blick auf das sich neu entwickelnde Bürgertum in Ostdeutschland, zum teil auch importiert, wird nun dem kleinen Mann klar, dass er eigentlich die ganze Zeit verschaukelt wurde. Er empfindet es als Kränkung und flüchtet in Vergangenheitsromantik. Noch 2001 bemerkte in FAZ Frank Pergande eine Haltung von Gleichmacherei, des Proletarischen und des Antikapitalismus in den Köpfen der meisten Ostdeutschen.
Und ein Letztes. Mitunter wird das Bürgertum nicht mit Bürgertum beschrieben, sondern mit Mittelkasse. Ich finde das nicht sehr zutreffend, weil es die materiellen Ressourcen überbetont, in Verbindung mit dem was in den neuen Bundesländern nach der Wende geschah, ist es allerdings angemessen, weil sich Bildungsbürgertum nicht importieren lässt und ein längere Tradition erfordert. Der unsägliche Proletarierkult wird uns wohl noch einige Zeit erhalten bleiben. Mit der Rückkehr der Mittelklasse entstehen aber auch wieder Aufstiegsmöglichkeiten für aus einfachen Verhältnissen stammende. Und für die jüngeren Generationen, die die jetzt allerorten die Ruder in die Hand nehmen, ist die DDR sowieso nur noch Geschichte.
Und für Euch, Ihr Jungen, habe ich diesen Text geschrieben, damit ihr erkennt und versteht warum die Alten so geworden sind, wie sie nun eben mal sind.
Links zum Text:
Die westdeutschen Wohlstandskinder waren fasziniert von Bürgerrechtlern und Bohemiens im Bezirk, vom Geruch der Revolution in gerade noch bewohnbaren Ruinen, vom Zwang zur Improvisation in Häusern, die kein Telefon hatten und nur Ofenheizung. Dann habe die Sache ihren üblichen Verlauf genommen: Die jungen Wilden wurden ruhiger, bekamen Jobs und Kinder und wollten Eigentum. Jetzt leben sie ähnlich wie ihre Eltern im Westen, allerdings in anderer Kulisse. Mit den Jahren sei etwas entstanden, was Häußermann „unkonventionelle Bürgerlichkeit“ nennt – voller Ideale und gleichzeitig sehr rational.
ZEITONLINE: Bionade-Biedermeier
Bürger - Bürgertum - Bürgerlichkeit
Wenn etwa Bürger zu Stiftern werden, drückt sich darin soziales oder politisches Handeln, eine Haltung aus. Sie sind damit zugleich Akteure in der bürgerlichen Gesellschaft oder der Bür-gergesellschaft, die ohne Gemeinsinn und bürgerliche Tugenden nicht funktionieren würde.
Aus Politik und Zeitgeschichte, 9-10 2008 (pdf|2,5mb)
Schon zu DDR-Zeiten prägten Studenten, Kulturinitiativen und Literaten das Image von Prenzlauer Berg. Nach dem Fall der Mauer hat sich Prenzlauer Berg zum Szeneviertel entwickelt und ist vor allem für sein ausgeprägtes Nachtleben und die Vielzahl an Kneipen, Cafés und Clubs bekannt.
Wikipedia: Prenzlauer Berg
Anschließend war er an der Humboldt-Universität wissenschaftlicher Assistent. Das Ministerium für Kultur der DDR, wo er ab 1975 im Bereich „architekturbezogene Kunst“ tätig war, entließ ihn, nachdem er sich geweigert hatte, eine Erklärung zu unterzeichnen, mit der er die Ausbürgerung von Wolf Biermann befürworten sollte.
Wikipedia: Wolfgang Thierse
Angewandte Kunst genoss im Osten einen hohen Stellenwert. Unangepassten bot sie einen Weg aus ideologischen Reglementierungen. In die Produktion gelangten die Entwürfe fast nie.
Der Tagesspiegel: Grenzgänger, Einzelgänger
In allen totalitären Systemen war die Verwendung des Begriffs verbunden mit der Festlegung politisch gesellschaftlicher Aufgaben der "Kulturschaffenden" (zugunsten des jeweiligen Systems).
Wikipedia: Kulturschaffender
Viele auch prominente Personen in Ost und West protestierten gegen Biermanns Ausbürgerung. Am 17. November 1976 veröffentlichten zwölf namhafte DDR-Schriftsteller einen von Stephan Hermlin initiierten offenen Brief an die DDR-Führung, in dem sie an diese appellierten, die Ausbürgerung Biermanns zurückzunehmen. Um eine Veröffentlichung sicherzustellen, übergab die Gruppe den Brief nicht nur dem Neuen Deutschland, sondern ebenfalls der französischen Nachrichtenagentur AFP.[12] In den folgenden Tagen schlossen sich der Erklärung rund 100 weitere Schriftsteller, Schauspieler und bildende Künstler an.
Wikipedia: Wolf Biermann
Der Konflikt aber zwischen der politischen und der intellektuellen Elite des Landes schwelte und zündelte weiter und trug – an seiner öffentlichen Darstellung gehindert – zur Implosion eines sukzessive entartenden Sozialismus erheblich bei.
DIE GAZETTE: Drohgebärden und Umarmungen
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