1. Dezember 2019

Achtundsechzig

Achtundsechzig, Achtundsechzig, immer wieder höre ich diese Zahl. Ich glaube nicht an solche historische Daten. Freilich markieren sie immer einen Wendepunkt, den Beginn von etwas Neuem, was nun in das Bewusstsein vorgedrungen ist. Dennoch, wenn es um gesellschaftliche Veränderungen geht, sind sie zumeist nichts anderes, als dass aus Latenz nun Präsenz geworden ist, um dieses Begriffspaar, dessen sich Hans Ulrich Gumbrecht lange gewidmet hat, zu übernehmen. Denn die Veränderungen geschahen schon vorher, die Ursache, dass es zu einem Dammbruch kommen konnte, besteht hauptsächlich darin, dass sich etwas aufgestaut hat.

Erste Zweifel, dass mit dem Narrativ Achtundsechzig was nicht stimmen kann, kamen mir schon vor langer Zeit. Der Wunsch nach Freiheit, nach dem Abschütteln von alten Wahrheiten, nach Sex und Drogen, der war schon vorher vorhanden. Die Wünsche wurden real, drangen in den Bereich des Möglichen ein, weil sich die Wirklichkeit verändert hatte. Und das hatte zuerst mal materielle Gründe. Ohne Auto oder TV, ohne Wohlstand, ist Achtundsechzig nicht vorstellbar. Schon als ich, noch in der DDR gegen Ende der Siebziger Jahre, Kerouacs „On The Road“ in die Hände bekam, war mir klar, dass ich die Narrative der Achtundsechziger nicht brauchte, um meinen Freiheits- und Unabhängigkeitsdrang zu verstehen. Der Roman ist in Fünfzigern entstanden und die sind für mich die Schlüsseljahre für das, was dann kommen sollte.

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Der Wunsch nach Unabhängigkeit und Freiheit ist freilich so alt wie die Menschheit – davon gehe ich jedenfalls aus – doch erst, wenn sich die realen Möglichkeiten bieten, wenn es eine Veränderung gab, nach der die Karten neu gemischt werden, werden diese Wünsche greifbar, dann verlassen sie die Imagination und der Versuch sie auszuleben, wird möglich. Oft, ich wage die Behauptung: fast immer, war es technischer und materieller Fortschritt, der zu diesen Veränderungen führte und die Möglichkeitsräume erweiterte, in dem dann die Begierden der Menschen einfließen konnte.

Die Fünfziger Jahre waren dann so eine Zeit. Das Auto, das Fernsehen, ein Wohlstand, der nun auch die niederen Klassen erreichte, veränderte die Realität und war letztlich der Motor für die Veränderungen, die nun auch die Gesellschaft insgesamt umkrempelten. Die Welt wurde klein durchs Fernsehen, durch den gewachsenen Wohlstand, durch nun vorhandene Mobilität. In Amerika zuerst, im Rest der Welt Stück für Stück etwas später.

Achtundsechzig stellt allerdings tatsächlich so etwas wie einen Wendepunkt dar. Aber nicht, wie so oft angenommen, weil sich hier ein Freiheitsdrang ausdrückte – ganz absprechen möchte ich dem nicht, da Entwicklungen nie gleichzeitig und homogen geschehen, also auch durchaus verschiedene Aspekte wirksam wurden – sondern, der gewonnenen oder nun greifbaren Freiheit einen spirituellen Sinn zu geben. Dies freilich etwas konfus und widersprüchlich, wie das halt so ist, wenn die Sinnsuche sich auf den Weg nach spiritueller oder religiöser Bestätigung aufmacht.

Zwei Gesichter sehe ich in meinem imaginären Film über Achtundsechzig, ein spirituelles Bedürfnis mit der Hinwendung zu einem politisiertem Christentum, bei gleichzeitiger Nähe zu fernöstlicher Religionen, und ein politisches Gesicht, der Studentenproteste unter Verwendung von linken Ideologien, was mir aber mehr wie eine Fratze erscheint. Das Gesicht der Freiheit sehe ich nicht, es fehlt. Die Überwindung des Gegenwärtigen, was als Einengung und Bevormundung empfunden wurde, glich mehr einem Umzug von einem Haus in das andere und nicht einem Aufbruch ins Ungewisse. Auch hierfür soll ein Roman als Beispiel gelten: „Siddhartha“ von Hermann Hesse. Dieses Buch wurde, wie Tanja Eisentraut schrieb, für die Lebenspraxis erschlossen und ein Wegweiser für die Zukuft. Und genau dieser Geist, der die begeisterte Rezeption dieses Hesse-Werkes in der Zeit nach Achtundsechzig erfuhr, hat mich bis heute daran gehindert Hermann Hesse ernst zu nehmen, ja bin ihm bis heute in herzlicher Verachtung verbunden. Doch das nur nebenbei.

Freilich denken wir heute, wenn wir Achtundsechzig hören, an die Studentenproteste und linke klassenkämpferische Parolen. Manche auch einfach nur an eine wilde Zeit, die alles auf den Prüfstand stellte, und die mehr dem Abenteuerdrang der Jugend geschuldet ist, und nur oberflächlich mit einer neuen Sinnsuche verbunden wurde. Denn die linken Parolen wurden dieser Bewegung nur aufgesetzt, so wie das nun heute auch in der Umwelt- oder Klimaschutzbewegung zu sehen ist. Zum Mainstream werden solche Bewegungen nie durch ihre konkreten Forderungen oder durch klare Argumente, erst wenn ein Mythos dazukommt, eine spirituell aufgeladene Erzählung, erreicht es die Massen und wird Mainstream.

Mein Fazit ist also, der Freiheitsdrang der Fünfziger, in Deutschland ein halbes Jahrzehnt zeitversetzt, wurde artikuliert, vor allem in Musik und Literatur, und durch den materiellen und technischen Fortschritt erst ermöglicht. Die Achtundsechziger dagegen, erscheinen mir mehr wie Menschen die der eigenen Freiheit überdrüssig geworden sind und nun eine neue spirituelle Behausung suchten. Die Kirchen spürten dies sehr wohl, für alles, was nach Spiritualität riecht, haben die ein feines Näschen und versuchen es für sich zu vereinnahmen. Daraus wurde dann in den Siebzigern solche Slogans wie „Schwerter zu Pflugscharen“ oder die Befreiungstheologie und dergleichen. Und diesen Vergleich möchte ich unbedingt auch noch ziehen, die heutige Wirkmächtigkeit der Klimaschutz- oder Umweltschutzbewegung ist erst entstanden, als sie sich mit spiritueller Sinnsuche vermischte. Die Utopien der Gesellschaftstransformierer linker Prägung haben allein nichts bewegt, nichts Wirkmächtiges entstehen lassen, genauso wenig wie die „Ho-Ho-Ho-Chi-Minh-Krakeeler“ der Achtundsechziger.


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