19. März 2020

Solidarität, Anarchie und das Virus

Die Politik lebt davon, dass Massen sich gegenseitig abgrenzen und das Individuum Schutz in der eigenen Masse sucht. Das Virus kümmert sich nicht darum, es greift keine Massen an, sondern Individuen. Diese sind nun ihres üblichen Schutzes beraubt, dieser ist gar in sein Gegenteil verkehrt, was Schutz bot ist nun Bedrohung. Die Rede von der Solidarität will dies verhindern, will die Massen zusammenhalten, aber die zerfallen in immer kleinere Einheiten, aus der Masse werden Meuten. Die Meute „ist die begrenzteste Form unter Menschen, sie war schon da, bevor es menschliche Massen in unserem modernen Sinne gab“ (Canetti in Masse und Macht). Urform der Meute ist die Familie, die Sippe, der Clan. Innerhalb dieser ist Solidarität vorhanden, und nur noch dort, denn die großen Massen können keinen Schutz mehr bieten.

Die politische Rede von der Solidarität will dem entgegenwirken, weil sonst eine Steuerung der Massen nicht mehr möglich ist. Manchmal gelingt ihr das, je nachdem wie stark die individuelle Bedrohung empfunden wird. Am Schluss aber, dann wenn die Bedrohung des Individuums mit dem Tod alle anderen Interessen, Ängste und Hoffnungen, in den Hintergrund gedrängt hat, gilt als allerletzter Befehl: Rette sich, wer kann!



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Soweit wird es wohl nicht kommen, nicht wegen einer Pandemie, hoffe ich zumindest. Aber es fällt eben auf, dass nun Politiker viel von Solidarität reden, geradeso als hätten sie verstanden, wie die Gemeinschaften durch das Virus bedroht werden.

Eine kurze Zeit lang wird dieser Versuch, ein politisches Zusammengehörigkeitsgefühl aufrechtzuerhalten, mit der Ermahnung zur Solidarität noch klappen, doch mehr und mehr, je mehr Zeit verstreicht, ohne dass die Lage sich verbessert, oder weil die individuelle Bedrohung stärker wird, muss diese Forderung nach Solidarität mit einem Sicherheitsversprechen einhergehen.

Momentan versucht die Politik dieses Sicherheitsversprechen durch Grenz-, Schul- und Ladenschließungen oder Quarantäneanordnungen zu geben. Mindestens aber die Illusion davon zu erzeugen oder die Hoffnung darauf. Ob und welche Sicherheit damit wirklich erreicht werden kann, dürfte im Einzelfall umstritten sein, aber darum geht es auch gar nicht, sondern darum, eine steuerungswillige Masse zu bewahren und zu verhindern, dass das Individuum seinen Schutz selbst in die Hand nimmt. Davor hat die Politik Angst, viel mehr noch als vorm Virus. Es würde bedeuten, die Masse, die Gesellschaft, zerfällt in Meuten des Selbstschutzes.

Letztlich wäre das dann mit Anarchie vergleichbar; und wie sich aus einem derartigem unkontrollierbaren Zustand wieder eine politische Masse bilden lässt, das steht in den Sternen. Sicher ist dann nur, alle Indoktrination, alle Erziehung der Bürger, wonach das Glück der Menschheit nur in größtmöglichen Gemeinschaften erreicht werden kann, ist hinfällig. Eine neue Gemeinschaft, die sich nach dem Ende der individuellen Bedrohungen bildet, würde eine andere als die vorherige sein.

Solidarität soll bei der Bekämpfung des Virus helfen, so ist in vielen Politikerreden zu hören – was natürlich Quatsch ist, das Virus kümmert unsere Solidarität herzlich wenig – doch gemeint ist damit nicht das Virus selbst, sondern seine Auswirkungen auf die Gesellschaft, es ist die Angst vor der Anarchie.

Es ist natürlich unwahrscheinlich, dass dieser Zustand tatsächlich eintritt, selbst wenn sich die Pandemie noch verstärken sollte und die Bedrohung für den Einzelnen noch größer wird. Eine Anarchie von unten, vom Bürger ausgehend, ist in Deutschland nicht so schnell zu befürchten. Allerdings schon, dass sich die politischen Anschauungen, Überzeugungen und Bewertungen ändern, und zwar in grundsätzlicher Natur. Die größtmögliche Masse, theoretisch also die ganze Menschheit oder mindestens Europa, hat sich als unfähig erwiesen, einen Schutz für das Individuum zu schaffen. Das Individuum hat die Erfahrung gemacht, in Zeiten existentieller Bedrohung – wie sie eben durch ein Virus und einer Pandemie entsteht – gibt es Schutz und Hilfe nur in kleinstmöglichen Gruppen: der Familie, der Meute, vielleicht noch der Nation.

Die Rede von der Solidarität über diese kleinstmöglichen Gruppen hinaus, versucht nicht das Virus zu bekämpfen – auch wenn das immer wieder in diesen Kontext gestellt wird – sondern appelliert an das Gemeinschaftsgefühl für die Menschheit, für Europa, um nicht die Erfahrungen des Einzelnen, dass Schutz nur in Kleingruppen zu bekommen ist, politisch wirksam werden zu lassen. Dies würde eine Umkehr bedeuten: weg von den idealistischen politischen Bildern, hin zu den existentiellen Bedürfnissen des Individuums.


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