Dass auch ich orakeln werden muss, als ich mir das einstündige Interview mit Merkel auf Phönix anschaute, war mir klar. Bestenfalls rechnete ich mit einigen vagen Andeutungen, die dann auf eine Richtung schließen lassen würde. Geringe Hoffnung bestand noch darauf, dass die Moderatoren das eine oder andere Thema etwas hartnäckiger nachfragen würden. Doch diese Hoffnung wurde schnell beerdigt. Zur Eurorettung wurde kaum nachgefragt und die Energiewende erst gar nicht angesprochen. Überhaupt konnte man den Eindruck bekommen, die beiden Journalisten, Michaela Kolster (phoenix) und Stephan Detjen (Deutschlandfunk), hätten sich zu einem Kaffeeplausch mit der Kanzlerin getroffen.
Wie Merkel Politik gestaltet, ihre Art Themen zu besetzen, vornehmlich durch klauen beim Gegner, schimmerte kurz durch. Was aber nicht zu erkennen war, warum es denn einen Grund geben sollte, Merkel zu wählen. Was ist ihr Kompass, welches sind ihre Grundüberzeugungen? Diese kann man nur erahnen, wodurch eine große Verunsicherung dahingehend entsteht, dass beim Auftreten von Problemen nicht mit einer verlässlichen Richtung zu rechnen ist. Die Erfahrungen der letzten Jahre, vor allem in Hinblick auf die Energiewende, haben gezeigt, dass Merkel eine einmal eingeschlagene Richtung schneller ändert als der politische Gegner gucken kann. „Wenn ich zu bestimmten Überzeugungen komme, kann ich doch nicht 4 Jahre alles in Petto halten - für einen scharfen Wahlkampf“, antwortete sie auf die Frage, warum der Wahlkampf zu langweilig sei.
Dennoch wurde sie ansatzweise konkret, nicht direkt beim Euro, dies war wohl auch nicht von Seiten der Interviewer vorgesehen, sondern zu Europa ganz allgemein. Zitat:
Ich kann auch mehr Europa haben, indem ich mich in meinem nationalen politischen Handeln strenger und intensiver darauf einlasse, dass mit anderen zu koordinieren. Das ist eine andere Form von mehr Europa. Und so werden wir darüber reden: brauchen wir noch mehr Kompetenzen für Europa? Wir können auch mal darüber reden: Nehmen wir doch mal wieder etwas zurück!
Am Ende könnte ein neues Konzept von Europa entstehen, ein Europa der Nationalstaaten die in wechselseitigen Verträgen zu Vereinbarungen zum gegenseitigen Nutzen kommen. Der Versuch der Schaffung einer europäischen Identität, einer die über der Nationalstaatlichkeit steht, muss als gescheitert angesehen werden, weshalb die Diskussion, wie denn das Europa der Zukunft aussehen könnte unbedingt geführt werden sollte (übrigens, hier in Glitzerwasser schon einmal angesprochen).
Ich vermute, dass Frau Merkels Vorstellungen schon sehr weit in diese Richtung gehen, sie sich aber bedeckt hält und die Diskussion darüber vermeidet. Im Wahlprogramm findet sich nichts darüber, genausowenig wie bei den anderen Parteien. Nicht mal die AfD hat diesbezüglich verwertbare Aussagen gemacht, wie denn ihr Modell von Europa aussehen könnte, außer dass sie die bestehenden Verhältnisse kritisiert. Wohin die Reise aber gehen soll, gehen könnte, dass müssen wir erraten. Dabei hätte eine öffentliche Diskussion darüber viel befreiendes, wenn Vorschläge diskutiert werden, die auch einen positiven Ausblick für Europa ermöglichen. Das wir momentan in einer Sackgasse stecken, dass dürfte sich rumgesprochen haben, nicht allerdings wie wir da wieder raus kommen.
Politiker und Medien verweigern diese Diskussion, und wir sind auf die Deutungen von Mimikexperten oder Orakel angewiesen.
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