1982 in einer Kreisstadt im südwestlichen Sachsen, damals zum Bezirk Karl-Marx-Stadt gehörig. Ich hatte eine Vorladung zum Gespräch ins Ministerium des Inneren bekommen. Nicht per Brief, sondern eines Tages standen zwei Herren, eigentlich unauffällig aussehend und in Zivil gekleidet, an der Tür und überbrachten mir die Vorladung lediglich mündlich. Der Grund war klar, einige Wochen vorher hatten meine damalige Frau und ich einen Ausreiseantrag gestellt. Zwar war dieses Ministerium des Inneren nicht die Stasi, doch wir wussten, dass wir von nun an genau mit dieser zu tun hatten.
Unser Entschluss das Land zu verlassen hatte natürlich eine Vorgeschichte, ich möchte aber nicht mit Einzelheiten langweilen, nur so viel, endlose Diskussionen gingen voraus, ich mit meiner Frau, und ganz viel mit den Kumpels. Im Nachhinein ist es schon bemerkenswert, wie wenig wir über die Strukturen des Machtapparates DDR wussten. Eine Mutmaßung ergab die nächste, und heute, wo wir nun mehr darüber wissen wie was funktionierte, stellt sich heraus, dass die meisten dieser Mutmaßungen keine Hirngespinste waren, sondern Tatsachen.
Wir feilten an den Begründungen für unseren Ausreiseantrag, der sollte so wenig wie möglich politisch verfänglich sein, und vor allem mit unserer persönlichen Situation und Befindlichkeiten erklärt werden. Auch das war so eine Annahme, wenn wir das System nicht im Ganzen angreifen, also nicht politisch argumentieren, sondern lediglich mit unserer persönlichen Situation und unserem Glauben und unseren Überzeugungen, dann wird es die Stasi schwerer haben, selbst in einem so rudimentären Rechtsstaat wie der DDR, uns als Systemfeinde darzustellen, die wir aber im Grunde waren. Freiheit war es, dieses oft strapazierte Wort, nach der wir uns sehnten, ohne aber genau definieren zu können, was diese Freiheit ist. Sie stellte sich uns in Sehnsüchten dar, vor allem in Gestalt des Westens, in dessen Länder wir nicht reisen konnten, die für uns so unerreichbar wie der Mond waren. Der zeigt uns seine Existenz durch sein Leuchten in der Nacht, der Westen durchs leuchten der Flimmerkisten. Doch viel wichtiger waren die Bücher, Jack Kerouacs »On The Road« habe ich verschlungen, und nicht verstanden, warum die Kumpels Salinger lasen, oder gar Hermann Hesse. Kerouac war Freiheit, Hesse und Salinger Einengung. Nun ja, ich war sehr jung damals, gerade mal kurz über Zwanzig. Differenzierungen sind nicht die Stärke dieses Alters.
Wenn Sehnsüchte unerreichbar werden, durch die Ordnung einer Gesellschaft oder eines Systems, empfindet man dies als große Ungerechtigkeit. Warum wird mir mein Menschenrecht verweigert? Natürlich hatten wir Erklärungen, rationale, für die Freiheit, und warum uns diese im real existierenden Sozialismus verweigert werden musste. Die Systemfrage stellte sich dann automatisch, sie ließ sich gar nicht verhindern. Mit Verachtung wurde das System betrachtet, die die sich angepasst hatten, gleich mit. Wie gesagt, das mit den Differenzierungen im dem Alter ist so ein Ding. Doch die Wut über diese Ungerechtigkeit, die musste irgendwie raus. Öffentlich ging das nicht, nur im geschützten privaten Bereich, und so war es wohl auch so ein stummer Protest gegen die Gesellschaft, als wir zu Ostern ausgeblasene Eier angemalt hatten, als Motive allerdings nicht die üblichen verwendeten, sondern Flaggen. So stand dann zum Fest ein dekorierter Osterstrauch, bestehend aus Weihdenkätzen und Birkenzweigen im Wohnzimmer, auf den daran angehängten Ostereiern allerdings Flaggen aufgemalt waren. Die von den USA, Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Italien, Schweiz und anderen, nur westlichen, Ländern. Ein Freund, der uns in dieser Zeit besuchte und erst kürzlich eine Polit-Schulung über sich ergehen lassen musste, brach in schallendes Gelächter aus, als er unseren Osterstrauch sah, weil bei dieser Schulung beklagt wurde, dass das Osterfest entpolitisiert sei und das man dieses im Sinne des fortschrittlichen Sozialismus politisieren müsse. Bei uns war es das schon, obwohl wir doch nur meinten, unsere Sehnsüchte verarbeitet zu haben.
In so einer Situation angekommen, wird es schier unmöglich zwischen Privat, Gesellschaft und Politik zu trennen. Genau vor dieser Aufgabe standen wir aber, als es nun darum ging eine unverfängliche Begründung für unseren Ausreiseantrag hin zu bekommen. Wir waren junge Eltern zweier Söhne, drei und ein Jahr alt, eine Tochter sollte bald noch hinzukommen, und so bestimmte unser Denken auch die Vorstellung was denn aus unseren Kindern in Zukunft werden würde. Dass sie in dieser von mir so verachteten Gesellschaft aufwachsen würden, war vor allem für mich eine unerträgliche Vorstellung. Also war auch schnell das Thema gefunden: Kindeserziehung.
„Es geht ihnen doch gar nicht um ihre Kinder, der Hase liegt doch ganz wo anders im Pfeffer!“ baffte mich ein Herr Burgwalden [Name geändert] auf dem Ministerium des Inneren an, um dann laut brüllend fortzufahren: „Sie scheißen doch auf ihre Kinder!“ Bis dahin ist dieses Gespräch eigentlich recht ruhig verlaufen, man hatte uns mitgeteilt, dass der Ausreiseantrag nicht bearbeitet werden könne, weil es darüber keine gesetzliche Regelung in der DDR gäbe. Und wenn wir weitere Anträge dieser Art stellen würden, es als eine Behinderung der Arbeit der staatlichen Behörden angesehen wird, was mit Freiheitsstrafe geahndet werden könne.
Ich kaufte dem Herrn Burgwalden seine Erregung nicht ab, sie wirkte künstlich und aufgesetzt. Es war offensichtlich nur eine Technik um uns aus der Fasson zu bringen, und er wurde auch sofort wieder ruhiger, als er merkte dass seine Masche nicht verfing, wir uns nicht provozieren ließen.
Natürlich ging es uns nicht nur um unsere Kinder, wir hatten den Ausreiseantrag damit begründet, dass das staatliche Erziehungs- und Bildungssystem uns zu sehr einengt um die Kinder nach unseren Werten erziehen zu können. Das wirkte, auf dem Papier, authentisch. Schließlich galt ich als Pazifist, hatte jedenfalls mit dieser Begründung, und in dem ich mich auf die Bergpredigt berief, den Wehrdienst mit der Waffe verweigert. Dies war eines der wenigen kleinen Freiheiten, die die Kirche dem Staat abgetrotzt hatte, was allerdings den Kollateralschaden einschloss, dass man mit einer derartigen Biografie sich keine Hoffnung auf irgendeine Karriere machen brauchte. Auch mein damaliges Engagement in der Kirche dürfte, so eine der Mutmaßungen, aktenkundig bei der Stasi gewesen sein. Unsere Clique hatte ein paar Jahre vorher ein Bühnenstück geschrieben und es in der örtlichen evangelischen Kirche aufgeführt. Ich spielte eine von zwei Hauptrollen in diesem sehr gesellschaftskritischen Stück, an das selbst ich aber besser nicht erinnert werden möchte, so peinlich ist es mir zwischenzeitlich. Tja, die Jugend halt, sie liebt Darstellungen mit klaren Botschaften. Den Applaus nach diesem Stück, in der inklusive der Empore voll besetzten Kirche, den allerdings, habe ich mit Stolz immer noch Ohr. Es waren stehende Ovationen.
Im Vorfeld dieser Aufführung, als wir in privaten Grundstücken und am Pfarrhaus Plakate dazu aufgestellt hatten, wurde auch der örtliche Pfarrer aufs Ministerium des Inneren dieser Kreisstadt zitiert. Dort wurde ihm eröffnet, so berichtete er später, dass aus rechtlichen Gründen keine Tonträger mit Inhalten fremder Künstler abgespielt werden dürften, und weiteren solchen belanglosen Käse. Aber um Inhalte ging es offensichtlich bei dieser Vorladung nicht, sondern um eine Botschaft: „Seid vorsichtig, wir haben euch unter Beobachtung!“
So war ich also schon der Stasi gut bekannt, die uns aber, wie ich später in meiner Akte nachlesen konnte, schlecht einschätzen konnte. Wie gesagt, auf dem Papier schien unsere Begründung für den Ausreiseantrag authentisch. Was uns wirklich antrieb, waren in der Tat nicht die Kinder, es war unsere Sehnsucht nach Freiheit. Hätte die Stasi unseren Osterstrauß gesehen, und richtig gedeutet, sie wäre auf den richtigen Trichter gekommen.
Oft, so scheint es, braucht es zusätzliche Informationen, um den wahren Charakter einer Sache zu erkennen. Oberflächlich betrachtet ging es mir ums Kindeswohl, genauer aber, war der Hass auf eine Gesellschaft die mir meine Menschenrechte verweigerte der wirkliche Grund. Ich wurde zum Kulturflüchtling weil ich die Freiheit wollte.
So wie ich mich verhielt, Scheinargumente vorbringend, weil der wirkliche Grund eine Gefahr für mein Vorhaben gewesen wäre, so verhalten sich sicher auch andere Menschen, die sich in der gegenwärtigen Umgebungskultur unwohl finden, und einen Hass darauf entwickeln. Kommunisten, Ökologisten, Faschisten, Islamisten mal nur als extreme Beispiele genannt. Sie verwenden Scheinargumente heute nicht deswegen, weil dadurch Gefahr für Leib und Leben verringert werden könnte oder müsste, wie in der DDR, sondern weil die Offenlegung der wahren Beweggründe eine zu heftige politische Gegenreaktion hervorrufen würde, und ihr Vorhaben schnell zum Scheitern bringen könnte.
Jeder kann sich ausmalen, was passiert wäre, hätte ich Herrn Burgwalden gesagt, dass ich die DDR als Ganzes verabscheue, was ich tat, in meiner jugendlichen Rigorosität. Die Gegenreaktion wäre heftig ausgefallen, also trickste und täuschte ich. Und genau das tun nun auch diejenigen, die unsere derzeitige Gesellschaftsordnung, unsere Kultur und unsere Freiheit verabscheuen. Die Gründe dafür sind vielfältig, die Ökos haben ihre eigenen Vorstellungen einer Gesellschaft, die mit der unsrigen heute nicht mehr viel zu tun hat, die anderen auch. Sie alle eint, dass sie die Systemfrage stellen, sie ergibt sich geradezu automatisch.
Doch die können nicht einfach fliehen, wie ich es tat, wohin sollten sie auch. Nein, sie müssen versuchen unsere gegenwärtige Kultur, unsere Gesellschaftsordnung, unsere Institutionen mit subversiven Methoden zu schwächen. Die Gender- und Sexualisierungsdebatte zielt auf eine Schwächung der Institution Familie ab, die vom ökologischen Fussabdruck auf den Kapitalismus. Freiheit, so wie wir sie heute definieren, ist sowieso allen ein Ärgernis, weil damit generell Individualität über Kollektivismus gesetzt wird, und unter diesen Umständen aber eine Transformierung der Gesellschaft, wo immer auch hin, nicht möglich ist.
Wollen wir wirklich erkennen was beispielsweise hinter den Forderungen nach mehr Toleranz in der Kindeserziehung, oder nach der von mehr Nachhaltigkeit in der Wirtschaft steht, dann müssen wir uns die Ostersträuße der Menschen anschauen, dort hinschauen wo sie ihre Träume, Visionen und Wünsche verarbeiten. In den politischen Forderungen, in den politischen Argumenten, sind sie nur ganz selten zu erkennen, ja diese dienen oftmals nur dazu, das Bild von den eigentlichen Zielen zu vernebeln. So was geschieht nicht generalstabsmäßig, sondern ist in der Natur der Menschen angelegt. Wer zur Vordertüre nicht rein kommt, versucht es eben hinten herum, so in etwa heißt es sprichwörtlich, und, so meine Deutung daraus, was auf dem Papier authentisch erscheint, muss es noch lange nicht sein. Das System als Ganzes wird erst dann öffentlich angegriffen, wenn man sich stark genug dazu fühlt oder zum Mainstream geworden ist. Dann tricksen und täuschen die Andern, notgedrungen.
Die Ausreiseantrag-Serie:
Diese Serie ist ebenfalls als Buch erschienen, ergänzt mit einigen Begebenheiten rund um das, was vorher geschah.
Dossier: Heimat
Kommentar veröffentlichen